Fesseln der Erinnerung
Gleichmütigkeit.
„Ich habe hier den Bericht über einen Zwischenfall im Liberty“, sagte der M-Mediale.
Darauf fiel sie nicht herein. Sie würde nicht antworten, denn er hatte ihr keine Frage gestellt.
„Haben Sie irgendetwas damit zu tun?“
„Um was für einen Zwischenfall handelt es sich?“
Der M-Mediale schaute in seine Notizen. „Ein Päderast hat sich etwas angetan.“
Es fiel ihr leicht, keinerlei Regung zu zeigen – seit sie im Alter von acht Jahren der Euthanasie überantwortet werden sollte, hatte sie sich darin geübt. „Handelt es sich um einen Menschen?“
„Ja.“
„Vielleicht hat er Reue empfunden“, schlug sie vor, obwohl sie wusste, dass die Kreatur in der Zelle nur dazu fähig war, sich selbst zu bemitleiden, weil man sie erwischt und eingesperrt hatte. „Menschen haben nun einmal Gefühle.“
„Für Reue gab es keinerlei Anzeichen.“
Den Gefängnispsychiater hatte er wenigstens nicht an der Nase herumführen können. „Hat er sich dazu geäußert?“
Der M-Mediale schüttelte den Kopf. „Nur unverständliches und zusammenhangloses Zeug.“
„Dann wird man nie erfahren, ob es Reue war“, stellte sie ohne jede Erregung fest. Vielleicht hätte sie Schuldgefühle haben müssen, aber sie war in Silentium. Sie fühlte nichts. Doch sie wusste, was der Gefangene getan hatte, kannte die schrecklichen Einzelheiten dessen, was er einem jungen, noch ungeformten Geist angetan hatte. Nachdem sie diese aus der Psyche des kleinen Jungen geholt hatte, hatte Sophia das Wissen in seinem Kopf begraben. Die Lücke von einer Woche würde sich erst wieder auftun, wenn er alt und stark genug war, die Erinnerung daran zu ertragen.
Leider funktionierte das nicht bei Kindern, die mit den Fähigkeiten eines J-Medialen geboren wurden. Sonst wäre ihr Leben vielleicht anders verlaufen … vielleicht.
Der M-Mediale tippte etwas ein. „Es ist der dritte Zwischenfall während der letzten drei Jahre, bei dem Sie sich in der Nähe befanden.“
„Ich muss oft in Gefängnisse“, antwortete Sophia, obwohl sie in Gedanken in einem ganz anderen Zimmer in einer nur zu bekannten Hütte war, bei dem, was sich dort vor zwanzig Jahren zugetragen hatte. „Das erhöht die Chance, bei einem solchen Zwischenfall in der Nähe zu sein.“
„Das Management hat beschlossen, Sie zur Rekonditionierung zu schicken.“ Der M-Mediale hielt ihr den elektronischen Notizblock hin und zeigte ihr die Anordnung. „Insbesondere, da Sie mit Gerard Bonner in Kontakt waren.“
„Ich habe nichts dagegen.“ Sie würden ordentlich in ihr herumwühlen, aber nichts finden. Das wusste Sophia genau. Zwar konnten weder Teile noch das gesamte Gedächtnis eines J-Medialen gelöscht werden, aber wenn man seinen Lebensunterhalt damit verdiente, die Erinnerungen anderer ans Licht zu bringen, fiel es einem nicht schwer, die eignen mit einem dichten Nebel zu umgeben, wenn es notwendig war. „Könnten wir das gleich heute machen? Ich muss morgen früh als Zeugin bei einem Prozess erscheinen.“
Völlige Rekonditionierung – Rehabilitation genannt – machte einen zu hirnlosem Gemüse. Doch die einfache Rekonditionierung, die Sophia nun schon viele Male hinter sich hatte, war in wenigen Stunden abgeschlossen. Nach ein paar Stunden Schlaf würde sie bei Sonnenaufgang wieder voll funktionsfähig sein.
Der M-Mediale sah in seinen Terminkalender. „Wir könnten Sie um sechs Uhr einschieben.“
Damit würde sie wieder mehrere Stunden ihres Lebens verlieren, in denen sie in einem halb bewusstlosen Zustand dahindämmerte – und gleichzeitig lief ihr die Zeit rasend schnell davon. Doch laut sagte sie nur: „Wunderbar.“
„Da ist noch etwas anderes.“
Sophia sah überrascht hoch. „Bitte?“
„Das Management hat einen neuen Auftrag für Sie.“ Er schickte ihr die Akte auf den Organizer. „Sie werden als Sonderberaterin für Ratsfrau Duncan arbeiten.“
Das war der erste Schritt, dachte Sophia, damit hatte sie schon gerechnet. J-Mediale, die zu viele Risse zeigten, wurden langsam ausgemustert. Wenn sie dann vollkommen von der Bildfläche verschwunden waren, erinnerte man sich nicht einmal mehr an ihren Namen. Niemandem fiel es dann noch auf, wenn ein J-Mediale nie wieder auftauchte. „Was soll ich tun?“
„Ratsfrau Duncan wird Sie darüber unterrichten – morgen um eins sollen Sie bei ihr erscheinen. Das müssten Sie schaffen, der Gerichtstermin liegt ja früh genug.“ Der M-Mediale erhob sich. Zögerte. „Eigentlich
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