Fesseln der Erinnerung
dürfte ich Ihnen das gar nicht sagen, aber Sie sollten sich Zeit nehmen, Ihre Angelegenheiten zu ordnen.“
Sophia wartete ab. Die ungewohnten Worte konnten eine Falle sein.
Der nächste Satz gab ihr die Antwort auf die Fragen, die schon seit ein paar Monaten in ihrem Kopf kreisten. „Das ist Ihre letzte Rekonditionierung – Ihre telepathischen Schilde sind zu stark angegriffen, als dass noch eine weitere möglich wäre.“ Er sah sie aus kühlen grünen Augen an. „Haben Sie mich verstanden?“
„Ja.“ Wenn sie sich das nächste Mal in ein Rehabilitationszentrum begab, würde nur eine Hülle mit leerem Blick von ihr übrig sein.
5
Das Kind ist fundamental geschädigt. Jeder Versuch, es zu retten, würde geraume Zeit und Mittel erfordern, wobei ein positives Ergebnis nicht garantiert werden kann.
– aus der Krankenakte von Sophia Russo,
minderjährig, Alter: 8
Nur vierundzwanzig Stunden nach dem Gespräch mit Commander Brecht verließ Max die Ankunftshalle des Flughafens in San Francisco, in einer Hand eine Tasche und in der anderen einen stabilen Käfig mit einem ziemlich aufgebrachten Kater. Ein Kater, der so herzzerreißend maunzte, dass die Umstehenden Max mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen bedachten, der sonst Leuten vorbehalten war, die ihren Hund schlugen oder ihr Pferd bis zum Umfallen antrieben.
„Max.“
Er blickte auf und sah sich einer wohlbekannten Gestalt mit lohfarbenem Haar gegenüber. Max stellte Tasche und Käfig ab, zog Talin in seine Arme und küsste sie auf den Mund. „Du siehst verdammt gut aus, Tally.“ Sie strahlte vor Gesundheit, die Sommersprossen hoben sich golden von der Haut ab, die trotz des kalten Januars noch immer leicht gebräunt war.
Das plötzlich einsetzende Knurren stammte von dem dunkelhäutigen Mann mit den grünen Augen, der neben ihnen stand. „Ein Mal ist in Ordnung. Beim nächsten Kuss machst du mit dem Boden Bekanntschaft.“
Grinsend gab Max Talin wieder frei und streckte die Hand aus. „Freut mich auch, dich zu sehen.“
Clay schlug ein. „Hallo, Bulle.“ Dann sah er zu Max’ Füßen hinunter.
Erst jetzt fiel Max auf, dass Morpheus keinen Laut mehr von sich gab, seit sie sich dem Paar genähert hatten. Er sah ebenfalls nach unten, ein schwarzer Ball mit gesträubtem Fell starrte Clay an. „Er versucht wahrscheinlich herauszufinden, welche Art Katze du bist.“
Talin bückte sich und steckte die Hand zwischen die Gitterstäbe, um das Tier zu streicheln.
„Lieber nicht“, sagte Max warnend. „Er beißt.“
„Wenn er Tally beißt“, sagte Clay, dessen Augen auf einmal nicht mehr die eines Menschen waren, „werde ich ihm meine Zähne zeigen.“
„Hört schon auf“, sagte Tally und strich Morpheus sanft über die Stirn. „Er ist nur sauer, weil er eingesperrt ist, nicht wahr, mein Schöner?“ Sie sah Max an und sagte im Bühnenflüsterton: „Clay wird auch unleidlich beim Fliegen.“
„Pass bloß auf“, grummelte Clay, aber seine Mundwinkel zuckten, und Max musste auch grinsen. Der Kerl war wirklich hin und weg von ihr.
„Ich bin froh, dass du ihn mitgebracht hast.“ Talin erhob sich. „Er hätte dich bestimmt vermisst.“
„Nee – der hätte schon einen anderen Trottel gefunden, der ihn mit Futter versorgt“, sagte Max. Der ehemalige Straßenkater war so überlebenstüchtig wie die sprichwörtliche Ratte auf dem sinkenden Schiff. „Aber ich weiß nicht, wie lange das hier dauern wird, und da habe ich mir gedacht, Morpheus könnte sich ruhig ein wenig in der Welt umsehen.“ Er nickte Clay zum Dank zu, als dieser den Koffer nahm, und ergriff selbst den Käfig. „Schön, dass ihr mich abholt.“
„Ich war dafür, dich sitzen zu lassen“, grummelte Clay.
Talin hakte sich bei Max unter. „Nimm’s ihm nicht übel. Heimlich mag er dich.“
„Ganz, ganz heimlich.“ Max’ Herz zog sich auf angenehme Weise zusammen, denn Talin wirkte so glücklich. Die Ermittlungen im Fall einiger vermisster Kinder hatten sie einander nähergebracht, aber auch schon vorher hatten sich ihre Wege in New York gekreuzt. Talin kümmerte sich damals um Kinder aus schwierigen Verhältnissen, die von der Polizei aufgegriffen worden waren.
Doch das allein war es nicht. Talin und ihn verband etwas so Selbstverständliches, dass sie nicht darüber sprechen mussten. Beide hatten als Kind unter staatlicher Fürsorge gestanden und wussten genau, welche Narben davon zurückbleiben konnten. Wer das nicht selbst erlebt hatte, konnte es
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