Fesseln der Erinnerung
Er sah sich um, holte einen Stuhl aus der Ecke des Zimmers und stellte ihn auf diese Stelle. „Dass man trotz allem so bereitwillig an einen Selbstmord glaubte, scheint mir ein Beweis dafür zu sein, dass die Medialen mehr Probleme haben, als allgemein bekannt ist.“
Sie sah zu, wie er auf den Stuhl stieg, und griff nach dem Türrahmen, als sich sein Bild über das von Vale schob. „Max?“ Sie schrie es fast, das gebrochene Geschöpf in ihr hatte Angst, große Angst. Er stand zu nahe am Bösen. Wenn es ihn nun berührte, wenn es den Mann erfasste, der so unerwartet lächeln konnte und sie sah, wie sie wirklich war!
Max zog an dem Fleischerhaken, sein Bizeps spannte sich, als er sich an dem schrecklichen Stück Stahl hochzog. „Ordentlich fest, aber das war auch notwendig – er hat doch mindestens ein oder gar zwei Stunden hier gehangen, bevor man ihn fand, habe ich recht?“
Sie überlegte krampfhaft. „Der Todeszeitpunkt lässt das jedenfalls vermuten.“ Trotz des Schreckens arbeitete ihr Kopf nach wie vor, die jahrelange Erfahrung machte es möglich. „Doch schon zwei Tagen vorher hat ihn niemand mehr gesehen.“
Max sah ihr in die Augen. „Guter Gedanke.“
Durch dieses Verstehen ohne jede geistige Verbindung etwas aus der Fassung gebracht, sprach sie ihre Vermutung aus. „Denken Sie, jemand könnte ihn unter Drogen festgehalten haben, bis der Haken installiert war?“
„Vielleicht nicht die ganze Zeit, aber zumindest eine Weile.“ Er sprang von dem Stuhl herunter und stellte ihn wieder zurück. „Das Ganze riecht nach einer Inszenierung für die Öffentlichkeit.“
„Ratsfrau Duncan konnte die Einzelheiten unter Verschluss halten.“
Max hob eine Augenbraue. „Wollen Sie damit sagen, dass niemand im Medialnet darüber spricht? Nach meinen Informationen ist es doch die Austauschzentrale für alles, was Medialen zu Ohren kommt.“
Sie ging nur noch selten ins Medialnet. Es war ihr alles zu viel – zu viele Stimmen, zu viele Gedanken, so als würde man in tosenden Wellen hin und her geworfen, jedes Flüstern, jedes gemurmelte Wort war wie ein Schlag. „Das stimmt wahrscheinlich“, sagte sie, dann fiel ihr plötzlich eine kleine Narbe auf Max’ linkem Jochbein auf. Ihre Fingerspitzen zuckten, wollten sie berühren, die Narbe erkunden.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. „Tun Sie es doch.“ Die leise, drängende Aufforderung eines Mannes, der viel zu viel sah.
„Ich kann nicht.“
Nicht etwa, ich will nicht, dachte Max, sondern ich kann nicht. „Warum?“
Sie senkte den Blick … und sah ihm dann wieder in die Augen. Sie war stärker, als sie selbst wusste, diese J-Mediale, die gesagt hatte, in ihr gebe es nicht mehr viel. „Ich bin sensitiv geworden.“ Sie verschränkte die Finger. „Ich kann Gedanken durch Berührung aufnehmen.“
Er hielt den Atem an, als in seinem Kopf Bilder des Vernehmungszimmers auftauchten, in dem sie zusammen mit dem schrecklichen Bonner gesessen hatte, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, ihr Gesicht, ihr Nacken so ungeschützt und verletzlich. „Was würde geschehen, wenn jemand Gestörtes Sie berührte?“
„Wenn ich Glück habe, verfalle ich nur in einen Schockzustand. Aber es ist wahrscheinlicher, dass die Flut der Bilder meine telepathischen Schilde überrollt und mich tötet.“
Er rührte sich nicht von der Stelle, starrte auf die schlanken Hände in den schwarzen Handschuhen, die in seiner Fantasie über seinen Körper glitten. „Wie lange haben Sie schon niemanden mehr berührt?“ Es kam scharf heraus, so heftig war das Bedürfnis in ihm, als wäre es über Jahre herangewachsen und gereift.
Augen wie dunkle Blitze sahen ihn an, erfüllt mit einer unendlich tiefen Einsamkeit, deren Erlösung nicht abzusehen war. „Seit vier Jahren.“
11
Sascha Duncan, kardinale E-Mediale, Gefährtin des Alphatiers des stärksten Leopardenrudels im Land und bekannt dafür, selbst im stärksten Sturm ein ruhender Pol zu sein, warf ein Buch im Wert von einer halben Million Dollar an die Wand.
Beinahe sofort setzte ihr Bedauern ein, und sie fing das Buch mit ihren geringen telekinetischen Kräften auf, bevor es auf die Wand treffen konnte – doch damit wurde sie ihre Frustration nicht los. Alice Eldridges Abhandlung über E-Mediale zufolge müssten kardinale Empathen eigentlich in der Lage sein, eine Revolte von Tausenden Aufständischer im Keim zu ersticken, aber Sascha war es nicht einmal gelungen, fünf Rudelgefährten aufzuhalten. Diese
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