Fesseln der Erinnerung
leeren Flur. „Das ist die Wohnung.“ Er ließ sie vorbei, damit sie den Code eingeben konnte, und öffnete dann die Tür. „Und die Antwort auf Ihre Frage ist: nein“, sagte er hinter ihr mit dieser Stimme, bei der sich ihr die Nackenhaare aufstellten. „Sie wäre nichts für mich.“ Er schloss die Tür hinter ihnen. „Aber eine Kleine mit heißen Kurven … da könnte ich reinbeißen.“
Sie erstarrte, sicherlich hatte sie ihn missverstanden, obwohl sie sich gerade sehr bewusst war, wie gut der untere Teil ihres Körpers die Jeans ausfüllte. „Detective Shannon“, sagte sie und drehte sich um, „das ist völlig unangebracht.“
Seine Mundwinkel schnellten empor. „Sie haben damit angefangen.“
Sie hätte gerne mit den Fingerspitzen über die schön geschwungenen Lippen gestrichen. Das Bedürfnis war so stark, dass ihre Finger sich verkrampften, als sie die Fäuste zur Abwehr ballte. Ihr Silentium löste sich seit Jahren auf – ein unvermeidlicher Nebeneffekt der Arbeit als J-Mediale, für den der Dienst eine „Frage-nichts-sage-nichts“-Politik verfolgte. Solange die Ärzte keine Beweise dafür fanden, wies das Management J-Mediale auch nicht ein. Einerseits aus ökonomischen Gründen, um stets genügend aktive J-Mediale bei der Hand zu haben … und andererseits auch deswegen, weil jeder im Dienst schon mindestens einmal im Leben in den Abgrund des Wahnsinns geschaut hatte.
Sophia gestattete sich zwar nicht, daran zu denken, wie es wirklich um sie stand, denn sie wusste, wie tief die M-Medialen graben konnten, doch war ihre Konditionierung Anfang des Jahres fast vollständig zusammengebrochen und ihr Geist voller dunkler Tentakel, die Silentium zurückwiesen. Und obwohl erst gestern die Rekonditionierung erfolgt war, hatte sie sich bereits heute wie eine alte Haut abgelöst. Dennoch war sie in der Lage gewesen, die Fassade einer perfekten Medialen aufrechtzuerhalten. Bis gerade eben.
„Weiteratmen, Sophia.“ Ein Befehl mit heiserer Stimme, und zu ihrer Überraschung trat er einen Schritt zurück und schaute sich im Wohnzimmer von Vales Apartment um. „Hier kann man Leute bewirten – vielleicht bei Besprechungen, denn ich nehme an, dass Mediale keine Partys geben.“
Mühsam setzte Sophia ihr Gehirn wieder in Gang. „Manchmal doch“, brachte sie spröde heraus, während sie gegen die Verwirrung ankämpfte, die seine Gegenwart in ihr auslöste. „Wenn wir mit Menschen oder Gestaltwandlern als Klienten zu tun haben. Das beruhigt die andere Seite.“
Manche Medialen konnten sogar eine Art eiskalten Charme entwickeln – Ratsherr Kaleb Krychek verfügte über eine ungewöhnliche Anzahl von Bewunderern unter Nicht-Medialen. Sie konnte das nicht nachvollziehen. Ästhetisch gesehen entsprach er natürlich dem Bild kalter, männlicher Schönheit. Aber sie war sicher, dass er seinen Bewunderern, ohne zu zögern, die Kehle aufschlitzte, wenn es erforderlich war.
„Wissen Sie, ob Vale hier außerhalb solcher gesellschaftlichen Anlässe Geschäftskunden empfangen hat?“ Als sie es wagte, Max wieder anzusehen, war sein Gesicht wieder das eines Polizisten. Doch in den fast schwarzen Augen glühte immer noch das Feuer. Er versuchte nicht, es zu verbergen, versuchte nicht, so zu tun, als sei alles zwischen ihnen so, wie es zwischen einem Polizisten und einer J-Medialen in Silentium sein sollte.
„Möglich.“ Ob Max wohl diese Wärme teilen und das Eis in ihrem Herzen zum Schmelzen bringen könnte, das sich gebildet hatte, als sie mit acht Jahren traumatisiert an ein Krankenhausbett gebunden war? Ob er sie heilen könnte? „Manche Menschen wollen nicht dabei gesehen werden, wie sie mit Medialen Umgang pflegen.“ Eine wichtige, drängende Frage, als Bemerkung verkleidet.
Max zog die Windjacke aus und knüllte den schwarzen Stoff zusammen. „Ich mag Mediale nicht“, sagte er ganz ehrlich. „Ich mag nicht, wie sie sich in Menschengehirne einschleichen und die Gerechtigkeit verbiegen, damit der Rat bekommt, was er will.“
Das hatte sie gewusst, natürlich, aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen.
„Aber Sophie“ – hatte er sie wirklich so genannt? – „ich bin kein Heuchler. Und Sie sind eine J-Mediale. Polizisten und J-Medialen sind immer miteinander klargekommen.“ Er hielt ihrem Blick stand, bis sie die Augen abwandte und sich bemühte, wieder festen Boden unter den Füße zu bekommen, indem sie sich minutiös alles ins Gedächtnis rief, was sie über den Fall wusste. Denn er
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