Fesseln der Leidenschaft
Wort zu reden, und mit einem elenden Gesichtsausdruck. Reina versuchte, sich in die Lage der Lady zu versetzen. Hätte sie nicht einen liebenden Vater gehabt, hätte auch ihr so etwas passieren können. Schon allein der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit.
Als Roghton, der sich mit allen verfügbaren Speisen vollgestopft hatte, endlich gesättigt war, interessierte er sich mehr für die ungehemmten Gespräche der Männer an den niedrigeren Tischen. Reina blieb mit Lady Roghton allein zurück, und die Blondine rückte näher, sobald ihr Mann gegangen war. Doch nun überlegte Reina, was sie sagen könnte, ohne daß es nach Mitleid klingen würde. Sie hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Die blonde Schönheit war überhaupt nicht mehr schüchtern, nun, da Lord Roghtons Gegenwart sie nicht mehr bedrückte.
»Ich habe gehört, daß Ranulf Fitz Hugh Ihr Mann ist?«
»Kennen Sie ihn?«
»Ich bin mir nicht sicher«, meinte Lady Roghton zögernd. »Ist er groß, sehr groß, und rundum golden?«
Reina war belustigt. »Ja, so könnte man ihn beschreiben.«
»Dann ist es mein Ranulf«, sagte die Frau aufgeregt. »Das finde ich unglaublich! Ranulf? Herr von Clydon? Es ist eine Schande, daß ich ihn verpaßt habe, aber jemand sagte, er sei in London. Dort werde ich ihn schon finden.«
Reina konnte nur vor sich hinstarren. Hatte die Frau vergessen, mit wem sie sprach? War sie sich überhaupt bewußt, daß ihr dieses besitzgierige ›mein‹ entschlüpft war? Schwer zu sagen! Ihr Benehmen hatte sich völlig verändert. Sie sprudelte förmlich über vor Erregung.
»Wann … wann kannten Sie Ranulf?«
»Oh, das ist lange her, aber er wird mich nicht vergessen haben.« Sie lachte, ein silberner, melodischer Laut. »Natürlich können Sie sich unsere Beziehung vorstellen. Jede Frau in Montfort wollte ihn haben, er war so schön anzusehen. Wie hätte ich ihm widerstehen können? Ich habe ihm sogar ein Kind geboren.«
Anne? Gütiger Himmel, das war Lady Anne!
Der Schock mußte sich auf Reinas Miene abgezeichnet haben, doch die Frau deutete ihn falsch. »Wußten Sie das nicht? Aber das muß Sie nicht beunruhigen. Männer sind niemals treu, wissen Sie! Sie verstreuen ihre Bastarde über das ganze Land. Ranulf ist selbst einer!« Dann lächelte sie. »Deshalb bin ich so erstaunt, daß er Herr von Clydon geworden ist.«
Reina nahm einen Schluck Wein und hoffte, er würde die Wut entschärfen, die sie plötzlich empfand. Was war das für eine Person, die so etwas zu der Ehefrau eines Mannes sagte – wenn sie nicht hoffte, Unfrieden zu stiften? Walter hatte recht, was die Lady betraf. Hinter dem Engelsgesicht mit dem süßen Lächeln steckte die Fratze eines berechnenden Weibsstücks. Und Reina hatte Mitleid mit ihr gehabt?
»Sie haben nicht gesagt, was mit diesem Kind geschehen ist«, sagte Reina. Sie erkannte, daß Anne sie glauben machen wollte, sie habe hier ein Bindeglied zu Ranulf.
Die Dame war etwas bestürzt über diese Bemerkung. »Habe ich nicht? Er starb, der arme Wurm. Ich war so verzweifelt.«
»Er?«
»Ich glaube … «, begann sie zögernd, doch sie faßte sich schnell. »Also, natürlich war es ein Junge. Ich weiß doch, was ich geboren habe.«
Jesus, sie wußte es tatsächlich nicht, es war ihr gleichgültig gewesen. Für Reina, als werdende Mutter, war das beinahe so unfaßbar wie der Entschluß der Frau, ihr Kind, ihr eigenes Fleisch und Blut, zum Sterben wegzugeben … O Gott!
Reina erhob sich. Sie konnte keine Sekunde länger die Gegenwart von Lady Anne ertragen. »Es ist ein Glück, daß Ranulf nicht hier ist«, sagte sie und entfernte sich.
Anne lächelte. Sie mißverstand diese Worte, weil sie nicht gescheit genug war, deren wahren Sinn zu erkennen.
45
Ranulf sprang die Stufen zur großen Halle hinauf. Es war schon spät, aber er achtete nicht auf den Lärm, den er machte. Er hatte Clydon vermißt. Drei Wochen waren eine zu lange Abwesenheit von … nun, er konnte es ja zugeben. Es war seine Frau, die er vermißt hatte, nicht Clydon. Sie mochte eigenwillig, temperamentvoll und zeitweise äußerst anstrengend sein, aber in ihrer Nähe fühlte er sich zum erstenmal als etwas Besonderes – umsorgt, wichtig, benötigt. Sie verschaffte ihm jede Bequemlichkeit, pflegte ihn, wenn er krank war, schimpfte ihn, wenn er sich zu weit vorwagte, und ängstigte sich um ihn. Bei ihr mußte er nicht auf der Hut sein, mußte ihre Worte und Beweggründe nicht anzweifeln, denn sie hatte bewiesen, daß sie anders
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