Fesseln der Nacht - Feehan, C: Fesseln der Nacht - Predatory Game
untrüglichen sechsten Sinn. Mit nahezu übermenschlicher Geduld glitt Saber vom Dachboden in die frische Luft. Als ihre Füße dreißig Zentimeter über dem steileren Bereich des Dachs baumelten, griff sie mit einer Hand durch die Luke und zog den Lüftungsrost wieder an seinen Platz zurück. Man hätte schon sehr scharfe Augen haben müssen, um zu entdecken, dass das Lüftungsgitter ein klein wenig schief saß. Sie ließ es los und ließ sich in die Hocke fallen. Ihre kleinen Füße landeten geräuschlos.
Sie verharrte wieder regungslos und wartete, denn sie wusste, dass diese ersten Momente entscheidend waren. Die Spezialkleidung aus ihrem Marschgepäck würde ihre Umgebung widerspiegeln, so dass sie mit dieser zu verschmelzen schien. Das war einer von vielen kleinen Tricks,
die dabei halfen, sie nahezu unsichtbar zu machen. Sie hielt ihre Energien auf einem möglichst geringen Level und veränderte ihren Körperrhythmus, damit sie sehr wenig ausstrahlte, was Ken und Mari auf die Gegenwart einer anderen Person hinweisen könnte.
Sie nahm es sofort wahr, als die beiden argwöhnisch wurden, denn ihre Energien schnellten empor, sowie das Adrenalin strömte. Sie hielt weiterhin still, atmete gleichmäßig und achtete darauf, dass ihr Herz langsam und regelmäßig schlug, sogar dann, als sie ihren Rhythmus automatisch ausweitete, um sie beide darin einzuschließen. Aus nächster Nähe konnte sie einen Herzschlag finden und ihn sich sogar ohne jede Berührung zunutze machen, aber das war weder so einfach noch so akkurat wie bei Körperkontakt. Sie konnte den Rhythmus nicht unterbrechen, doch sie konnte beruhigend und beschwichtigend auf ihn einwirken.
Sie hatte beide Personen schon einmal berührt und ihrem Gedächtnis den Rhythmus beider eingeprägt. Die bioelektrischen Aktivitäten jedes einzelnen Menschen waren sogar in einer Umkehrphase einzigartig. Saber hatte einen verfeinerten elektromagnetischen Puls, wenn sie sich in das Feld einklinken wollte, das ihr Körper erschuf. Er war so stark, dass sie ihren eigenen Rhythmus in geschlossenen Räumen und in Gegenwart anderer Menschen beträchtlich dämpfen musste, um keine empfindlichen Mechanismen zu beschädigen, ob menschlich oder von Menschenhand geschaffen.
Ein fremder Rhythmus ließ sich mühelos unterbrechen, wenn sie ihr Zielobjekt berührte, aber auch ohne direkten Kontakt konnte sie Impulse aussenden, um den Rhythmus in die gewünschte Richtung zu lenken. Es
hing alles davon ab, so behutsam vorzugehen, dass die Veränderung natürlich wirkte. Sie durfte nicht zulassen, dass um sie herum Energien emporschnellten, die einem Soldaten mit gesteigerten übersinnlichen Anlagen ihre Anwesenheit verraten hätten.
Sie wartete, bis sowohl Ken als auch Mari wieder zu ihrem normalen Rhythmus zurückgefunden hatten, und dann nahm sie ihren Weg über das Dach auf und begann sich zwischen den beiden Schattengängern hindurchzuschlängeln. Sie hatte jahrelang mit genmanipulierten Soldaten mit gesteigerten übersinnlichen Anlagen trainiert, und sie hatte sich durch Bereiche bewegt, in denen Kameras, Bewegungsmelder und so ziemlich jede fortschrittliche Technologie auf dem Sicherheitssektor gegen sie eingesetzt worden waren. Die letzte Verteidigungslinie hatten Hunde und physisch und psychisch weiterentwickelte Soldaten gebildet, die den Befehl zum Töten erhalten hatten.
Sie zuckte nicht mit der Wimper, als sie an Mari vorbeischlich, sich gegen den Wind hielt und ihren Rhythmus weiterhin dämpfte, um keine natürlichen Warnsysteme auszulösen. Sie war ihr so nah, dass sie eine Hand ausstrecken und Maris Bein hätte berühren können, während sie vorüberschlich. Sie glitt über die Dachkante auf die angebaute Garage. Wenn sie einen anderen Weg hätte wählen können, hätte sie es getan, aber das war der einzige sichere Weg vom Dach, ohne Geräusche zu riskieren. Selbst leise Geräusche waren bei Nacht weithin zu hören, und hier draußen, wo Jesses Haus stand, gab es so gut wie gar keinen Verkehr und keine anderen Häuser.
Sie musste sehen, dass sie möglichst schnell vom Dach herunterkam. Ken schlich dort herum und suchte die
Umgebung immer wieder systematisch ab. Es mochte zwar sein, dass er sie nicht fühlen konnte, doch sein Radar war außerordentlich empfindlich, und er war entweder der gründlichste Wächter auf Erden, oder er war angespannter, als ihr lieb war. Sie schaffte es kaum über die Dachrinne, als er auch schon auf sie zukam. Ihr Herzschlag setzte
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