Fesseln der Sehnsucht
weitere Arbeiter Pakete in die Halle.
»Mrs. Rayne …«
»Mrs. Rayne …«
Wenn sie heute noch einmal ihren Namen hörte, würde sie laut schreien!
»Sie wollten mich sprechen, Mr. Rayne?«
»So ist es«, Heath legte die Feder beiseite und faltete die Hände auf dem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, Bartlett.«
»Gern, Sir.«
»Erinnern Sie sich an unser Gespräch über persönliche Interviews?«
»Ja, Sir.«
»Ein ziemlich neues Gebiet in unserer Branche und niemand macht es richtig gut abgesehen von der Chicago Sun und der New York Tribune vielleicht. Aber Interviews sind für den Examiner sehr wichtig, Bartlett. Die Leute lesen gern, was andere Leute zu sagen haben.«
»Ich erinnere mich, dass Sie mit mir darüber sprachen.«
»Und ich bin mit Ihrer Arbeit einigermaßen … zufrieden. Deshalb gab ich Ihnen den Auftrag, Bürgermeister Shurtleff zu interviewen.«
Der junge Mann rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, als Heath’ blaue Augen ihn durchbohrten. Heath fuhr fort, ihm seine Vorstellungen zu unterbreiten, und die Mischung seines bohrenden Blickes und dem sanften, gedehnten Singsang seiner Stimme hätte selbst ein selbstbewussten Reporter zu einem Häufchen Elend schrumpfen lassen.
»Sir, ich kann das erklären..«
»Allem Anschein nach haben Sie vergessen, was ich Ihnen eingeschärft habe, Bartlett.«
»Was denn?«
»Die Leute lesen nicht gern alte Hüte.« Heath machte eine Pause, ehe er mit der flachen Hand auf den Schreibtisch schlug, worauf Bartlett zusammenzuckte. Heath scheute sich nicht, theatralische Effekte einzusetzen, um seinen Standpunkt deutlich zu machen. »Herrgott noch mal, jeder weiß, dass Shurtleff in Harvard studiert hat. Jeder weiß, dass er neue Straßen gebaut hat. jeder weiß, der er nahezu jeder historischen Gesellschaft im Bundesstaat angehört.
Nachdem ich das Interview gelesen habe, das Sie mir vorlegten, ist mir aber nicht klar, warum Sie ihn nicht danach gefragt haben, wieso er so viel Zeit mit seinen Geschichtsstudien verbringt, statt sich darüber Gedanken zu machen, wie eine anständige Feuerwehr auf die Beine zu stellen ist! Wieso vernachlässigt er die öffentlichen Parkanlagen?
Was hält er vom neuen Tarifgesetz und was hat er bisher für die Armen getan? Wie steht er zur Haltung der Bostoner zur Reconstruction? Keine einzige dieser Fragen haben Sie ihm gestellt!«
»Aber, Sir … während des Gesprächs waren andere Herren anwesend.«
»Was«, fragte Heath mit unheilvoller Geduld, »hat das eine mit dem anderen zu tun?«
»Ich kann doch niemand im Beisein von anderen in Verlegenheit bringen.«
»Bartlett«, stöhnte Heath. »Gütiger Himmel! Das gehört zu Ihrem Beruf. Kapieren Sie das nicht? … Nein, Sie kapieren es nicht.« Er seufzte, dachte ein paar Sekunden nach und wandte sich dann wieder seinem geknickten Reporter zu. »Also gut. Das werden Sie verstehen. Sie sprechen noch einmal bei Shurtleff vor und sagen ihm, es gäbe noch ein paar Dinge zu klären …«
»Aber …«
»Wenn nötig, sagen. Sie ihm, er wolle doch kein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit vermitteln. Und wenn Sie mit ihm reden, fragen Sie ihn nach der Feuerwehr und dem Tarifgesetz oder stellen ihm ähnlich heikle Fragen. Wenn Sie mir eine vernünftige Antwort auf eine peinliche Frage bringen – nur eine –, bekommen Sie zehn Prozent mehr Gehalt. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Ja, Sir!«
»Und nun gehen Sie. Und für zehn Prozent verlange ich wirklich peinliche Fragen.«
Nun, da das Haus beinahe fertig eingerichtet und das Personal angestellt war – bestehend aus Kutscher, Köchin, zwei Hausmädchen und einem Butler –, hatte Lucy viel freie Zeit zur Verfügung. Von einer Dame, die sie bei ihren Einkaufsexpeditionen kennen gelernt hatte, erhielt sie eine Einladung zu einem Vortrag mit anschließendem Mittagessen, veranstaltet vom Frauenverein Neuengland, die sie mit großer Freude annahm. Danach begann sie an anderen gesellschaftlichen Anlässen und Salongesprächen teilzunehmen. Welch ein Unterschied zu den Clubtreffen in Concord! Gespräche über Mode, Kleinstadtskandale und Liebesaffären waren in den Salons von Boston verpönt.
Hier unterhielten die Damen sich über Literatur und Politik, hörten Vorträge von Berühmtheiten des öffentlichen Lebens, Professoren und Privatgelehrten und führten Streitgespräche – natürlich höflich und gesittet – über Recht und Unrecht und über Veränderungen, welche die Zukunft
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