Fesseln der Sehnsucht
bringen würde. Lucy hörte hingerissen zu, begeisterte sich an einer hitzigen Debatte zwischen zwei Harvard-Professoren oder dem Vortrag eines Diplomaten über Amerikas Außenpolitik, während man Biskuitkuchen aß und Tee aus hauchdünnen Tassen trank.
Gierig saugte Lucy neues Wissen auf wie ein Schwamm das Wasser und war glücklich, wenn sie Heath mit ihren Kenntnissen und Kommentaren zur Tagespolitik in Erstaunen versetzte.
Gelegentlich brachte er Damon zum Abendessen mit, wenn die beiden bis weit in den Abend hinein in der Redaktion gearbeitet hatten. Nachdem Heath zum ersten Mal mit dem unerwarteten Gast erschienen war, hatte Lucy ihrem Gatten hinterher Vorhaltungen gemacht, sie ohne Vorwarnung zu überfallen, noch dazu, da ihr Damon Redmond nicht sonderlich sympathisch war. Heath hatte ihr entgegengehalten, Damon habe keine Ehefrau, die ihn versorge, und sei gezwungen, allein im Restaurant zu essen, wenn er die strikt festgelegten Mahlzeiten im Hause Redmond nicht einhielt. Nach dieser Erklärung tat Damon ihr ein wenig Leid. Sie schämte sich ihrer mangelnden Gastfreundschaft und bemühte sich fortan, eine besonders aufmerksame Gastgeberin zu sein.
Diese spontanen Abendessen mit Damon verliefen wesentlich angenehmer als der erste Abend im Parker House. Er gewöhnte sich bald an Lucys freimütigen Umgang mit ihrem Gatten und an ihr lebhaftes Interesse für die Zeitung und beteiligte sich lebhaft an den Tischgesprächen. Er war ein unterhaltsamer Plauderer, wusste amüsante Anekdoten zu berichten und brachte sie mit seinem pfiffigen Humor häufig zum Lachen. Er benahm sich natürlicher und entspannter in ihrem Beisein und lächelte häufiger. Und gelegentlich, wenn Lucy erzählte, welchen Vortrag sie besucht oder an welchen Clubaktivitäten sie teilgenommen hatte und einen Blick zu Damon hinüberwarf, sah sie seine kohlschwarzen Augen in beunruhigender Aufmerksamkeit auf sich gerichtet. Damon gab Lucy Rätsel auf Bei seiner beeindruckenden Herkunft und seinem angesehenen Namen schien er keine Familienbindung zu haben. Er war ein Einzelgänger, nicht anders als Heath vor der Ehe. Und da sie seine Einsamkeit spürte, brachte Lucy ihm eine scheue Sympathie entgegen, die sein Herz für sie erwärmte.
Dank Damons Verbindungen – obwohl er dies auf die leichte Schulter nahm und Lucys Dank nicht annehmen wollte – erhielten die Raynes die Einladung zu einem Ball zu Ehren eines neu gewählten Stadtrats. Normalerweise dauerte es mindestens ein Jahr, bis man in Boston ›ankam‹, und das bedeutete, dass Neubürger zu einem exklusiven Fest gewöhnlich nicht geladen wurden. Eines Abends erschien Damon bei den Raynes, zog zwei der heiß begehrten Einladungen aus der Rocktasche und reichte sie Lucy, als man sich zu Tisch setzte.
»Oh, Mr. Redmond!«, strahlte sie überglücklich. »Wie reizend … wie aufmerksam. Ich … Wie ist es Ihnen nur gelungen …«
»Purer Eigennutz«, wiegelte Damon achselzuckend ab. »Ich kenne diese Festlichkeiten zur Genüge, um zu wissen, wenn eine Veranstaltung besonders öde zu werden verspricht. Ich verlasse mich auf Sie beide, mir die Langeweile zu vertreiben.«
Lucy reichte Heath die Einladungen mit einem schmerzlichen Lächeln. »Meinst du, wir sollen ein Geschenk annehmen, das aus so niederen Beweggründen gegeben wurde?«
Heath’ Augen funkelten belustigt, als er antwortete. »Ich weiß nicht, wie du dazu stehst, Süße, aber ich finde, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.«
Um genügend Zeit zu haben, sich für den festlichen Ball vorzubereiten, war Lucy an diesem Freitag nicht zu dem üblichen Vortrag ihres Clubs gegangen. Mit Hilfe eines der Hausmädchen wusch sie sich das Haar und spülte es mit verdünntem Zitronensaft. Es bedurfte unzähliger Nadeln, Kämme, und vieler entnervter Stoßseufzer, bis das seidig glänzende Haar aus der Stirn frisiert und zu einer gelockten Krone aufgetürmt war und in wippenden Korkenzieherlocken im Nacken hing. Ihr Kleid war eine Kreation aus Seidenbrokat, mit floralen Ornamenten aus Silber- und Goldfäden bestickt. Die Schleppe bestand aus gerüschten Taftvolants, die bei jedem Schritt hoheitsvoll rauschten. Das Dekollete gewährte tiefe Einblicke auf ihren vollen, alabasterhellen Busen und die makellosen Rundungen ihrer glatten Schultern. Ihre eng geschnürte Wespentaille wurde durch die ausladende Tournüre betont, während der vorne eng geschnittene Rock den Schwung ihrer Hüften zeigte. Lucy musterte sich prüfend
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