Fesseln der Sünde
weiteren schweigsamen Mahl nieder. Tulliver musste sich in die Schankstube zurückgezogen haben. Charis war dankbar, dass sie nicht miteinander sprachen. Sie wäre an jeder weiteren Lüge erstickt. Außerdem überfiel sie bei dem Gedanken, Sir Gideon verlassen zu müssen, das törichte Verlangen zu weinen. Wie hatte er nur in so kurzer Zeit so viel Macht über ihre Gefühle gewinnen können? Ihr war, als hätte ein eigenartiger Wahnsinn sie befallen.
Nachdem die Dienerschaft die Teller abgeräumt hatte, gelang es ihr, ihrer Stimme eine angemessene Note weiblicher Verlegenheit zu verleihen. »Wäre es möglich, wenn ich kurz ungestört sein könnte?«
Gideon und Akash tauschten einen vielsagenden Blick miteinander, standen jedoch sogleich auf. »Wir schicken Ihnen jemanden zur Hilfe«, sagte Gideon.
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Charis eilig, die ihre Chance zur Flucht vor ihren Augen dahinschwinden sah.
»Ich bestehe darauf.« Gideon, verflucht sei er, wartete mit ihr im Raum, während Akash hinausging, um nach den Bediensteten zu rufen.
Eine ganze Reihe Dienstmädchen brachte heißes Wasser und Handtücher sowie verschiedene Toilettenartikel. Sie musste vor Freude seufzen, als der letzte Gegenstand, ein einfaches, braunes Kleid aus Baumwolle, vor ihr ausgebreitet wurde. Sie sehnte sich danach, ihre zerlumpte, schmutzige Kleidung zu wechseln.
Weiß der Himmel, wo Sir Gideon so schnell ein Kleid hatte auftreiben können. Was einmal mehr zeigte, wie umsichtig und aufmerksam er doch war. Wieder verdrängte sie dieses aufrührerische Verlangen, alles zu beichten und ihn um Hilfe zu bitten. Männer änderten sich, wenn sich ihnen die Möglichkeit bot, ihre Taschen mit Gold zu füllen.
Gideon stand in der Tür und entließ die Dienerschaft. »Tulliver ist draußen, falls Sie etwas benötigen.«
»Danke.« Wie sehr wünschte sie sich doch, sie könnte mehr sagen, sich von ihm verabschieden, ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, ihm erzählen, wie sehr sie sich wünschte, ihn besser kennenlernen zu können.
Doch das war unmöglich.
Sie schaute ihn lange an und nahm seine körperliche Ausstrahlungskraft, die Stärke und Intelligenz, die in seinen unwiderstehlichen Gesichtszügen lag, in sich auf. Sie wusste schon jetzt, dass sie ihn niemals vergessen würde. Sie drehte sich weg und tat so, als interessierte sie sich für die Gegenstände auf dem Tablett. Wenn sie Gideon noch länger anschaute, müsste sie anfangen zu weinen.
Die Tür wurde leise geschlossen. Endlich war Charis alleine. Sie stieß den angehaltenen Atem aus. Dennoch setzte sie ihren Plan nicht sofort um. Stattdessen näherte sie sich langsam dem Spiegel, der in der Ecke stand.
Angesichts der zahlreichen Schwierigkeiten, in denen sie sich befand, war es geradezu lächerlich, dass sie all ihren Mut zusammennehmen musste, um ihr Spiegelbild zu prüfen.
Sie wappnete sich innerlich, um der Frau im Spiegel entgegentreten zu können. Und als sie es schließlich tat, blieb ihr nichts anderes übrig, als in schallendes Gelächter auszubrechen.
Hatte aus Sir Gideons Augen Verlangen gesprochen? Was für eine eitle, verblendete Närrin sie doch war. Kein Mann konnte bei ihrem Anblick etwas anderes als Mitleid empfinden. Oder Ekel.
Sie hatte sich auf einen schockierenden Anblick gefasst gemacht. Doch was sie sah, war schlimmer als ihre schlimmsten Befürchtungen. Ihr Gesicht bestand aus einer Ansammlung von blauroten und gelben Flecken. Ihr Kiefer war so verzerrt, dass sie geradezu grotesk aussah. Zwischen den ganzen Schrammen starrten ihr vertraute haselnussbraune Augen mit einem benommenen Ausdruck aus dem Spiegel entgegen.
Sie biss ganz hart auf ihre zuckenden Lippen, doch der stechende Schmerz konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie war ein Monster, ein Schreckgespenst, ein Drachen. Wie dumm, etwas zu beweinen, was wieder heilen würde, aber dennoch musste sie ihre unverletzte Hand heben, um die Tränen aus ihren Augen zu wischen. Akash hatte ihr versichert, dass sie keine bleibenden Schäden davontragen würde, doch die Worte schienen wie blanker Hohn, als sie die Frau im Spiegel betrachtete.
Das einstmals elegante blaue Kleid stand vor Dreck und war so zerrissen, dass es sinnlos war, es nähen lassen zu wollen. Ihre zittrige Hand wanderte nach oben, um das verfilzte, zerzauste Haar, das um ihre Schultern hing, zu berühren.
Sie holte Luft, was sich fast wie ein Schluchzen anhörte, und sah den Blick ihrer wässrigen Augen im Spiegel. So
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