Fesseln der Sünde
konnte es nicht weitergehen. Sie richtete sich auf. Sie war Lady Charis Weston, letztes Mitglied einer Familie mit einer langen Ahnenreihe von Kriegern. Eine Tochter von Hugh Davenport würde sich nicht von zwei Feiglingen wie Hubert und Felix geschlagen geben.
Das Grauen, das sie im Spiegel sah, würde vergehen. Jetzt musste sie sich auf ihre Flucht konzentrieren.
Eilig wusch sie sich und zog ihre zerrissene Kleidung aus. Das billige Kleid war zwar zu groß und kratzte auf ihrer empfindlichen Haut, doch war es zumindest sauber und nicht kaputt. Es zuzumachen dauerte eine halbe Ewigkeit, und sie keuchte vor Schmerz, als sie fertig war.
Sie verbrachte kostbare Minuten damit, ihr Haar zu entwirren, bis es ihr schließlich gelang, es aus ihrem Gesicht zu stecken. Das Mädchen im Spiegel begann, einigermaßen ordentlich auszusehen. Solange niemand ihr zerschundenes Gesicht sah.
Mit zittrigen Händen zog sie den Mantel an. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren verletzten Arm, als er behutsam in den Ärmel glitt, aber dank Akashs Pflege war er zu ertragen. Der riesige Mantel sah lächerlich an ihrem zarten Körper aus, doch hielt er sie warm, weshalb sie nicht auf ihn verzichten mochte.
Sie fühlte in der Manteltasche nach der Pistole. Sobald sie eine sichere Bleibe gefunden hätte, würde sie sie verpfänden. Sie redete sich ein, dass es kein Diebstahl war, sie mitzunehmen. Sowie es ihr möglich wäre, würde sie die Waffe einlösen und wieder zurückgeben. Sie hatte sich schon gewappnet, den Ring und das Medaillon ihrer Mutter zu verpfänden, obwohl ihr bei diesem Gedanken das Herz blutete.
Wie lange war sie schon hier drinnen? Würden Gideon und Akash bald zurückkehren und wissen wollen, was sie im Schilde führte? Sie durfte nicht trödeln. Das Anziehen hatte schon viel zu lange gedauert.
Ihr Mund war durch die Anspannung ganz trocken, als sie einen Blick durch das Fenster warf. Sie wusste, dass unter dem Fenstersims ein kleines Dach über den Hinterhof ragte. Mit einem verstauchten Handgelenk im Schnee herumzuklettern war riskant, aber nicht so riskant, wie darauf zu warten, dass ihre Stiefbrüder sie fänden oder ihre Retter ihre Identität entdeckten, um sie dem Richter vor Ort zu übergeben.
Vorsichtig schob sie das Fenster nach oben und kletterte hinaus. Ihre geprellten Rippen machten sich bemerkbar, aber sie biss die Zähne zusammen und arbeitete sich weiter vor zum Dach. Der Gedanke, ihre Stiefbrüder könnten sie schnappen, ließ alle Schmerzen vergessen.
Drei Wochen noch bis zur Freiheit, versprach sie sich grimmig.
Sie schob die verlockende Erinnerung an schwarze Augen, die sie glühend anschauten, beiseite und fand Halt auf dem rutschigen Dach.
3
»Wir haben ein Problem, Mylord.«
Gideon blickte vom Satz seines Bieres hoch in die besorgten Augen Tullivers und war schockiert, ihn anders als gelassen zu sehen.
»Und das wäre, Tulliver?« Er setzte den Krug auf dem Tisch ab. Er saß in der dunkelsten Ecke des Schankraums. Und in der kältesten. Die Bänke um ihn herum waren leer. An einem solch eisigen Tag drängten sich die Gäste um das wärmende Feuer am anderen Ende der Gaststube. Und dennoch, all diese Menschen, die mit ihm im gleichen Raum saßen und die gleiche Luft atmeten, machten ihn nervös und ungeduldig.
Er wusste, was Tulliver sagen würde, noch bevor er zu sprechen begann.
»Das Mädel. Sie ist weg.«
Tulliver hatte vor dem Zimmer Wache gehalten. Gideon musste erst gar nicht fragen, ob sie auf diesem Weg entkommen war. »Wie zum Teufel ist sie über das Dach gekommen? Sie hat ein verstauchtes Handgelenk.«
»Ja, aber das hat sie nicht daran gehindert.« In Tullivers Stimme schwang bei all seinem Groll auch eine Spur Bewunderung mit.
»Verdammt.« Gideon sprang hoch und schritt zur Hintertür des Schankraumes.
Dieses törichte Mädchen. Wusste sie nicht, welche Gefahren da draußen auf sie lauerten? Die schlimmsten Vorwürfe aber machte er sich selbst. Was war er doch nur für ein gedankenloser Dreckskerl. Wie hatte er sie nur entkommen lassen können? Nun, es war nicht so, als hätte er ihre Pläne nicht erahnt. Obwohl er angesichts ihrer Verletzungen es nie für möglich gehalten hätte, dass sie es wagen würde, aus einem Fenster im oberen Stockwerk zu klettern und es dann auch noch über ein vereistes Dach zu schaffen.
»Wie lange ist sie schon weg?«, fragte er krächzend.
Tulliver hielt mit seinem schnellen Schritt mit. »Kaum eine Minute, vermute ich. Der Raum war
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