Fesseln der Sünde
John geleitete seine Begleiter nach draußen. Gideon folgte ihnen und blieb auf der Treppe stehen, um sicherzugehen, dass die Farrells auch tatsächlich gingen. Er schickte ihnen einen Stallburschen hinterher, der ihm bestätigen sollte, dass sie auch nicht zurückkehrten. Er vertraute Charis’ Brüdern genauso wenig wie sie ihm.
»Hol das Mädchen aus dem Versteck«, sagte er zu Tulliver, als sie wieder alleine waren.
»Wollen Sie sie sehen, mein Herr.«
»Nicht gleich. Sag ihr, ich werde mit ihr vor dem Abendessen in der Bibliothek sprechen. Lass in der Zwischenzeit die Truhen meiner Mutter in ihr Zimmer nach unten bringen, und sag den Dienstmädchen, sie sollen den Lumpen, den sie anhatte, verbrennen.«
»Was sage ich ihr bezüglich jener schmierigen Dreckskerle?«
Gideon starrte die Auffahrt hinunter, auf der inzwischen von Felix, Hubert und dem nur mit Widerwillen hineingezogenen Sir John nichts mehr zu sehen war. Als er Tulliver antwortete, war seine Stimme ruhig und sehr sicher. »Sag ihr, ich habe mich für ihre Sicherheit verbürgt. Sie hat nichts zu befürchten.«
Ein plötzlicher Energieschub ließ ihn die Stufen zum Hof hinunterspringen. Er ging nach links durch den Steinbogen in Richtung der Klippen, über die der Wind fegte.
10
Ihr Magen schlug vor Aufregung Purzelbäume, als sie sich der Bibliothek näherte. Heute Nachmittag hatte sie hinter der Wand zugehört, wie Gideon Felix und Hubert in Schach gehalten hatte. Sie hatte seiner Klugheit und Tapferkeit im Stillen zugejubelt. Aber wie würde er ihr heute Abend gegenübertreten? Er hatte herausgefunden, dass sie die reichste Erbin Englands war. Würde sie Habgier in seinen Augen entdecken, wie es bei so vielen anderen Männern gewesen war?
Oder noch schlimmer, würde aus seinen Augen Abscheu sprechen bei der Erinnerung, wie sie sich ihm an den Hals geworfen hatte?
Die fürchterliche Blamage ließ sie zitternd und zögerlich vor der verschlossenen Tür stehen. Auf dem Dachboden war der Glaube in ihr kurz und flammend hochgeschossen, er fühlte die unbeschreibliche Verbindung zwischen ihnen. Sie hatte sich getäuscht und ihr Verhalten seitdem bitter bereut.
Nur Mut, Charis.
Sie straffte die Schultern, rieb ihre feuchten Handflächen an ihren Röcken und begab sich leise in die schwach beleuchtete Bibliothek.
Gideon schien ihr Eintreten nicht sofort zu bemerken. Er stand in der Nähe des Kamins und starrte mit düsterem Gesichtsausdruck ins Feuer. Von dem im Schatten liegenden Ende des Raumes fuhr ihr sehnsüchtiger Blick über sein dank des Feuers golden leuchtendes, kantiges Gesicht und seinen schlanken, kraftvollen Körper. Er war formeller als sonst gekleidet und trug einen besonders feinen dunkelblauen Mantel und beigefarbene Hosen. Er sah wieder eher aus wie der elegante Mann, der ihr anfangs begegnet war, und nicht wie der schneidige, zerzauste Pirat, in den er sich hier auf Penrhyn verwandelt hatte.
Die Erinnerung an das kurze, schwindelerregende Feuer in seinem Mund ergriff ihre Gedanken. Dann fiel ihr ein, wie er sich aus ihren Armen gewunden hatte, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
Scham stieg in ihr hoch. Sie konnte kaum fassen, dass sie sich ihm so an den Hals geworfen hatte. Und für einen verhängnisvollen, törichten Moment auch noch gedacht hatte, er begehrte sie genauso sehr wie sie ihn.
Was war sie doch für ein mitleiderregender Dummkopf.
Gideon hob langsam den Blick, als lasse er nur widerwillig von seinen Gedanken ab. Und stehe wohl auch genauso widerwillig der Frau gegenüber, die sich ihm aufgedrängt hatte.
»Guten Abend, Lady Charis«, sagte er ruhig.
Ihr wurde mit Schrecken bewusst, dass er zum ersten Mal ihren richtigen Namen benutzt hatte. Trotz ihrer strengen Ermahnungen erzitterte sie vor Vergnügen, als die dunkle, samtige Stimme Charis sagte.
»Guten Abend.« Sie bewegte sich zentimeterweise weiter in den Raum hinein, hin- und hergerissen zwischen dem sehnlichen Verlangen, bei ihm zu sein, und dem feigen Wunsch zu fliehen.
Gideons Augen wurden größer, als sie in den runden Lichtschein des Kerzenleuchters trat und er sie gänzlich sehen konnte. Das Gefühl, ihrem Henker gegenüberzutreten, hatte ihren Stolz bewogen, ihr schönstes Kleid anzuziehen. Beziehungsweise das schönste Kleid seiner Mutter, hauchdünn und weiß, das unter ihren Brüsten von einer breiten blauen Seidenschleife gehalten wurde. Dorcas hatte ihr geholfen, das Haar locker hochzustecken, wobei einzelne Strähnen in Locken
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