Fesseln des Herzens
Frankreich hatte besorgen lassen. Unzählige Kerzen erhellten den Saal und spiegelten sich in den silbernen Kelchen und Tellern, die auf dem Platz jedes Gastes bereitstanden. Auf einem kleinen hölzernen Podest warteten die Musikanten auf ihren Einsatz. Auch sie hatte der Baron extra für diesen Anlass engagiert.
Als die Feier schließlich begann, vermisste George of Ravencroft jedoch etwas: Aimee. Er winkte einen seiner Diener zu sich, einen rotgesichtigen Jungen mit blondem Haar, und schickte ihn los, um die Schäferin zu holen.
Der Diener fand Aimee in ihrem Zimmer. Sie hatte die schwarze Kirchgangrobe abgelegt und eines der anderen Kleider gewählt, das schlichteste von allen. Es bestand aus cremefarbener Seide und hatte lediglich über dem Busen eine zarte Stickerei. Trotzdem verschlug ihr Anblick dem Pagen offenbar die Sprache, denn seine Ohren und Wangen wurden dunkelrot.
»Aimee«, sagte er, als er sich wieder ein wenig gefangen hatte. »Der Herr erwartet Euch auf dem Fest.«
Die Schäferin lächelte und fragte dann zu seiner großen Überraschung: »Soll ich wirklich auf dieses Fest gehen? Ich bin so einfach wie du auch.«
Die Augen des Jungen weiteten sich, und er wurde blass. »Der Baron wünscht, dass Ihr in den großen Saal kommt«, antwortete er mit zitternder Stimme und rieb seine schweißfeuchten, eiskalten Hände aneinander. »Er würde es Euch gewiss übelnehmen, wenn Ihr nicht erscheint.«
Aimee nickte. Sie wollte dem Burschen keine Schwierigkeiten bereiten, also erhob sie sich, hob den Tontopf hoch, der am Fenster stand, und zog das Tuch herab. Ein Rosenbusch kam darunter zum Vorschein.
Ein merkwürdiges Geschenk für die Tochter eines Barons, dachte der Junge, allerdings kümmerte ihn nur, dass sie so bald wie möglich wieder unten waren.
»Also dann, lass uns gehen«, sagte sie und folgte ihm auf den Gang.
Noch bevor sie den großen Saal erreicht hatten, tönten ihnen laute Stimmen entgegen.
»George of Ravencroft, glaubt Ihr, dass durch dieses schwache Kind der Fortbestand Eures Hauses gesichert ist?«, rief ein Mann, dessen Gesicht zornesbleich war. Die Gäste wichen vor ihm zurück, als sei er ein tollwütiger Wolf.
Aimee wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, und wandte sich an den Diener. »Wer ist dieser Mann?«
»Der Baron of Woodward. Er ist ein alter Feind Ravencrofts.«
»Warum ist er dann hier?«
»Weil unser Herr ihm seinen Erben präsentieren will.«
»Darüber scheint er aber nicht sehr erfreut zu sein.«
Der Diener nickte, und bevor er noch etwas sagen konnte, erhob George of Ravencroft seine Stimme.
»Ich habe Euch hergebeten, um einen Moment des Friedens und der Freude mit Euch zu teilen. Offenbar war diese Annahme falsch.«
Noch vor jedem anderen im Saal erkannte Aimee, dass die kleine Mary in Gefahr war. Der streitbare Baron stand in der Nähe der Wiege, sein Schwert griffbereit an der Seite. Was, wenn er die Waffe zog und vor Wut nach dem Kind stieß?
»Ich schwöre Euch, sie wird nicht lange genug leben, um Euer Haus fortzuführen, und dann gehören Eure Felder mir. Versteht Ihr, mir gehören sie!«
Woodwards Stimme hallte wie Donner durch den Saal.
Im Bruchteil einer Sekunde schoss Aimee nach vorne und stellte sich mitsamt des Tontopfes vor die Wiege. »Dem Kind wird nichts geschehen!«, rief sie mit fester Stimme und wütend funkelnden Augen. »Und wenn es Euer Schwert sein soll, Mylord, das dem Leben dieses Mädchens ein Ende bereitet, so werdet Ihr erst mich töten müssen.«
Woodward starrte sie finster an. Es schien, als wollte er tatsächlich sein Schwert ziehen.
Da winkte Ravencroft seine Männer herbei. »Danke, dass Ihr gekommen seid, aber ich fürchte, für Euch ist das Fest zu Ende.«
Bevor Woodward etwas erwidern konnte, waren er und seine sprachlose Gattin von der Leibwache des Barons umstellt.
Henry Fellows stand mit gezogenem Schwert vor ihnen. »Wenn Ihr mir bitte folgen würdet, Mylord und Mylady?«
»Das werdet Ihr noch bereuen!«, schleuderte Woodward Ravencroft entgegen und warf Aimee einen hasserfüllten Blick zu, der ihr bedeutete, dass Gleiches auch für sie galt.
»Ihr werdet diesem Kind nichts zuleide tun, das schwöre ich Euch«, raunte sie als Antwort und hielt seinem Blick so lange stand, bis er sich endlich den Wachen anschloss.
Nachdem die unliebsamen Gäste den Raum verlassen hatten, wurde es totenstill im Saal. Alle Anwesenden blickten auf die Schäferin, die noch immer vor der Wiege stand. Schließlich erhob
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