Fesseln des Herzens
Ahnen zu treffen oder auf finstere Ungeheuer, die es zu bekämpfen galt.
Diese Vorstellungen waren verschwunden, aber die Gänge übten nach wie vor eine große Faszination auf ihn aus.
Während einige der Wände von den Licht spendenden Fackeln kahl und rußgeschwärzt waren, breiteten sich über andere große Wandteppiche aus, die das Wappen seiner Familie und verschiedene Begebenheiten aus der Heiligen Schrift zeigten.
In sich versunken strich er im Vorbeigehen über den Teppichflor und erlaubte sich den Gedanken an Aimees Haar. Gleichzeitig hallten ihm die Worte de Boisys durch den Sinn. Er wusste, dass sein Schwiegervater recht hatte, und dennoch wollte er nichts tun, was Nicole verletzte. Die Liebe, die er sich von ihr ersehnte, würde er ganz gewiss nicht erhalten, wenn er ihr untreu war.
Andererseits verspürte er jedes Mal, wenn er der Schäferin begegnete, ein glühendes Begehren. Vielleicht würde es verschwinden, wenn er ihm nachgab …
Ein erdiger Duft, durchsetzt mit der ersten Süße von Kirschblüten, strömte ihm schließlich entgegen. Noch einmal bog er ab, dann breitete sich der Garten vor ihm aus.
Im Mondlicht wirkte er wie das Reich einer Fee aus den alten Märchen, die ihm einst seine Amme erzählt hatte. Die Blüten leuchteten wie frischer Schnee auf den Ästen der Kirschbäume. Die anderen, noch kahlen Bäume wirkten wie Gespenster, die ihre Totenfinger in den Himmel reckten.
Davor stand, als sei sie eine Feenkönigin, Aimee.
Ravencroft hielt einen Moment inne, denn die Schäferin hatte er hier ganz und gar nicht erwartet.
Ihr Blick war gen Himmel gerichtet, und offenbar war sie dermaßen in ihre Gedanken versunken, dass sie ihn nicht zu bemerken schien.
»Eine schöne Nacht, nicht wahr?«, fragte er, als er sich neben sie stellte. »Man sagt, dass die Frau wie der Mond sei. So wechselhaft und zugleich so beständig.«
Aimee wandte sich um und sah ihn an. Seine geschwungenen Augenbrauen stachen deutlich hervor, und seine Augen wirkten in dem fahlen Licht bleich wie Silber. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte er.
»Nun, Aimee, wie steht es mit dir? Bist du wie das Gestirn über uns?«
»Jede Frau ist so, Mylord«, antwortete sie und blickte zu dem leuchtenden Halbrund am Himmel. »Sie bereitet dem Kind das Bett in ihrem Leib, wenn der Mond zunimmt, und sie ist bereit, den Samen des Mannes zu empfangen, wenn der Mond voll ist. Mit abnehmendem Mond verschließt sie sich und wird unfruchtbar, und sofern sie nicht empfangen hat, reinigt sie sich durch ihr Blut mit dem Neumond. Danach beginnt alles von vorn.«
Ravencrofts Blick streifte über ihren Körper. Es würde fürwahr ein Vergnügen sein, das Lager mit ihr zu teilen, da hatte de Boisy recht. Ihm als Herrn würde es gewiss nicht schwerfallen, seinen Wunsch durchzusetzen, aber es widerstrebte ihm, die junge Frau gegen ihren Willen zu nehmen. Dazu gefiel sie ihm einfach zu sehr. Außerdem war er kein ausgehungerter Söldner.
»Es ist Weidemond«, fuhr Aimee fort. »Das Gras bildet Wurzeln und wächst schneller denn je. Und die Schafe bekommen ihre Lämmer.«
»Du liebst dein Leben, wie es ist, nicht wahr?«, fragte der Baron.
»Ja, Mylord, das tue ich«, antwortete sie. »Ich fühle mich frei.«
»Frei in Armut«, setzte Ravencroft hinzu.
»Freiheit ist Freiheit«, entgegnete Aimee leichthin. »Ich habe alles, was ich brauche. Mir steht jedes Vierteljahr ein Schaf oder Lamm zu, und ich darf einen Teil der Wolle, die ich schere, für mich behalten. Bedenkt auch, dass die Leute mir meine Hebammendienste stets mit irgendetwas entgelten, seien es Eier oder Brot. Ich bin nicht arm.«
»Wie steht es mit der Einsamkeit? Du lebst allein, fern von anderen Menschen.« Der Baron fand sichtlich Gefallen an der Unterhaltung.
»Ich bin nicht einsam, Mylord«, sagte die Schäferin mit einem Lächeln. »Ich habe meine Hunde zur Gesellschaft und zu meiner Erbauung meinen Rosenstrauch. Nachts singen mir die Frösche ein Schlaflied, morgens weckt mich der Vogelgesang. Außerdem vergeht kaum ein Tag, da nicht eine Frau niederkommt oder ein Mann Probleme mit seiner Männlichkeit hat.«
»Auch da kannst du helfen?« Ravencroft lächelte amüsiert und trat näher an sie heran. Mit der rechten Hand strich er sanft eine Locke von ihrer nackten Schulter. »Ich glaube, dass bei deinem Anblick kein Mann über fehlende Lendenkraft klagen kann.«
Aimee lächelte schelmisch und versuchte, die in ihr aufkeimende Unruhe zu überspielen. »Ich pflege
Weitere Kostenlose Bücher