Fesseln des Schicksals (German Edition)
der General ihm angewiesen hatte.
«Glaubst du, du triffst?»
«Kein Problem, Großvater.»
Zwar hatte er seinen Freund schon Hunderte von Malen schießen sehen, aber heute fiel Richard auf, dass Scott sich ganz anders aufstellte. Es war, als hätte er ein vollkommenes Gleichgewicht gefunden. Sein Körper wirkte nicht so ungeschickt und kraftlos wie sonst, und er hielt den Arm mit großer Sicherheit und Ruhe.
Verwirrt beobachtete Richard, wie Scott sein Ziel anpeilte. Dann hörte man die Detonation des Schusses. Als Richard zur Zielscheibe ging, entdeckte er ungläubig das Loch. Scott hatte mitten ins Schwarze getroffen. Lächelnd klopfte General Sanders seinem Enkel auf die Schulter.
«Mein lieber Enkel, ich sehe, dass du dir wirklich Mühe gibst, nicht positiv aufzufallen.»
Scott verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern.
«Ich tue, was ich kann, Großvater.»
Richard brauchte eine Weile, um die Sprache wiederzufinden. «Offensichtlich», sagte er schließlich, «hast du neben der Navigation noch andere versteckte Talente.»
Der General lud die beiden jungen Männer zum Mittagessen in einen Gasthof in der Nähe des Bahnhofs ein.
«Wann hast du schießen gelernt, Scott?», fragte Richard nach dem zweiten Glas Wein.
«Als Kind.»
«Er war acht Jahre alt, als ich es ihm beigebracht habe», erzählte der General stolz. «Damals war er vom Schießen nahezu besessen. Jeden Tag hat er stundenlang geübt. Mit vierzehn war er schon fast so gut wie sein Onkel Lead, mein Sohn, der ein hervorragender Schütze war.»
Richard wirkte nachdenklich. «Klaus wird wohl niemals erfahren, was für ein Glück er hatte», murmelte er vor sich hin. Aber der General hatte zugehört. «Anscheinend ist dieser Klaus ein ziemlich impulsiver Bursche», sagte er.
«Das kannst du wohl sagen. Wenn ich geahnt hätte, was mir bevorsteht, hätte ich ihn gewinnen lassen.»
Der General lächelte. Erstaunlicherweise schien dieser Ehrenmann in keiner Weise darüber entsetzt zu sein, dass Scott in der Akademie der Ruf eines Feiglings anhaftete.
«Und wenn ich richtig unterrichtet bin, Scott», sagte er, «hätte ich dir wohl besser das Boxen beibringen sollen.»
Die drei brachen in schallendes Gelächter aus.
Als sich die beiden Freunde von Scotts Großvater verabschiedeten, erklärte Richard erfreut, einen herrlichen Nachmittag verbracht zu haben. Und bei sich dachte er, dass er eine ganz neue Seite an Scott entdeckt hatte, sein Freund hatte ganz entspannt gewirkt und seine spöttische Art für eine Weile abgelegt.
Auf dem Rückweg wandte Richard sich seinem Freund zu und sah ihm fast feierlich in die Augen.
«Scott O’Flanagan, du bist immer für eine Überraschung gut.»
***
Für Richard und Scott, deren Freundschaft sich verändert hatte und noch tiefer geworden war, vergingen die folgenden Jahre wie im Flug. Richard hielt den Platz des Klassenbesten, und Scott schaffte es zum Erstaunen aller, die Prüfungen immer noch im letzten Moment zu bestehen und auf der Schule zu bleiben.
· 17 ·
I ch werde einen Spaziergang machen», verkündete Charlotte. «Kommst du mit, Hortensia?»
Konzentriert mischte ihre Schwester ein wenig mehr Grau in das Blau, das sie auf die Palette gedrückt hatte, und tauchte die Spitze ihres Pinsels in die Farbe. «Ich bleibe hier. Ich möchte den Himmel fertig malen, bevor das Licht weg ist», antwortete sie.
Charlotte machte einen Schmollmund. «Wie du willst. Ich werde jedenfalls einen Spaziergang machen.»
«Vergessen Sie den Sonnenschirm nicht, Miss Charlotte», erinnerte sie Latoya, die auf der Veranda Kartoffeln schälte und dabei ab und zu einen bewundernden Blick auf Hortensias Werk warf.
Charlotte verabscheute es, den dämlichen Sonnenschirm mitnehmen zu müssen. Er war ihr lästig. Außerdem war erst April, und sie war sowieso viel hübscher, wenn eine leichte Sonnenbräune die Farbe ihrer Augen hervorhob. «Na großartig. Dann bleibe ich eben auch hier», sagte sie und ließ sich zurück in den Korbstuhl fallen, an dem der unliebsame Sonnenschirm lehnte.
In diesem Moment trat Noah aus der Küchentür und ging über die Veranda. Freundlich nickte Hortensia ihm zu. «Auf Wiedersehen, Noah.»
«Auf Wiedersehen, Miss Hortensia», gab der Sklave zurück.
Latoya bemerkte sofort den besonderen Glanz in Charlottes Augen und spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Miss Charlotte langweilte sich, und in diesen Momenten konnte sie wirklich gefährlich sein. Die Sklavin hoffte,
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