Fesseln des Schicksals (German Edition)
besten noch heute Nachmittag», sagte er mit einem Blick auf sein Erscheinungsbild.
Olivier konnte sehr gut sehen, in welchem Zustand der Gehrock war. Das Leder war rissig und dunkel geworden. Nur mit Mühe konnte er seinen angewiderten Gesichtsausdruck hinter dem langen, gepflegten Schnurrbart verbergen, den er trug, seit er die ersten Falten auf seiner Oberlippe entdeckt hatte.
«Ich brauche außerdem noch einen zweiten sommerlichen Anzug, einen für Festtage und schließlich einen Reitanzug.»
«Accessoires?»
«Was Sie für notwendig erachten.»
«Farben?»
«Suchen Sie etwas aus.»
In Oliviers Kopf bildeten die Hemden, Schuhe, Stiefel, Jacken, Hosen und Handschuhe bald ein hübsches Sümmchen. Die kleine, dunkle Iris des Schneiders verschwand beinahe hinter den Pupillen, die sich mit der immer länger werdenden Liste vor Glück vergrößerten. Er wusste, David Parrish sparte nie an seiner Kleidung, sondern verlangte stets das Beste. Im Handumdrehen hatte sich der Ärger über einen schrecklich heißen Tag in die Freude über ein hervorragendes Geschäft verwandelt.
Ausgiebig studierte Monsieur De Hule den Mann, den er vor sich hatte. Bei einer Körpergröße von einem Meter achtzig hatte David Parrish breite und wohlgeformte Schultern. Olivier hatte ihn praktisch heranwachsen sehen. Mit seiner Nadel hatte er vor über zehn Jahren den ersten Anzug für ihn vollendet, der nur der Anfang einer langen Geschäftsbeziehung war. Damals war David ein junger Bursche von achtzehn Jahren gewesen und hatte seinen Vater zum ersten Mal nach New Orleans begleitet. Für seine Maße brauchte Olivier nicht einmal in seinen Karteikarten nachzusehen. Er kannte sie in- und auswendig. Natürlich war David seit seinem letzten Besuch etwas schmaler geworden, aber das lag an den harten Monaten im Krieg. Bald würde er sein normales Gewicht zurückhaben.
Nachdem Olivier seinen Kunden von oben bis unten betrachtet hatte, nickte er und schnippte dann mit den Fingern nach seinem Lehrling. Der Junge stapelte gerade Kartons auf dem Ladentisch und ließ sofort alles stehen und liegen. Er lauschte aufmerksam den Anweisungen auf Französisch und verschwand dann hinter einem Vorhang.
«Der sommerliche Anzug wird Ihnen gewiss gefallen, Monsieur Parrish.» Wie ein Wasserfall redete Olivier auf seinen Kunden ein, um ihn von der Qualität seiner Ware zu überzeugen. «Ich kann Ihnen versichern, in Europa ist das die neueste Mode. Und der Stoff …» Bewundernd zog er die Augenbrauen in die Höhe. «Wirklich erlesen!»
Wenig später trat der Lehrling mit einem Anzug aus dem Hinterzimmer, den er sich achtlos über den Arm gelegt hatte.
Olivier warf ihm einen tadelnden Blick zu. Würde er es denn nie lernen? Dachte dieses Bürschlein vielleicht, dass er sich eine Pferdedecke über den Arm geworfen hatte? Mit einer wütenden Handbewegung nahm er den Anzug an sich und schickte den Jungen in die Mittagspause. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass keine einzige Falte den Eindruck trüben könnte, hob er das Kleidungsstück hoch und zeigte es seinem Kunden so vorsichtig, als hielte er ein Tablett mit kostbarem Porzellan.
Ein Blick genügte David, um festzustellen, dass der Anzug perfekt war. Der feine, seidige Stoff schien ihm genau richtig für die heißen Sommertage, die die Weiten Virginias gleichermaßen heimsuchten wie New Orleans.
«Wie ich schon sagte», fuhr Olivier fort, «das Material ist in Europa sehr gefragt. Ideal für heiße und schwüle Sommerabende. Sehen Sie nur dieses erfrischende Perlgrau!»
«Er gefällt mir.»
Sofort hängte Olivier den Anzug über einen Ständer und forderte seinen Kunden auf, ihn anzuprobieren.
«Danke, aber das wird nicht nötig sein.» David fühlte sich schmutzig und müde. «Ich bin sicher, dass er mir passt.»
Der Anzug war bestimmt für jemand anderen genäht worden, da war David sich sicher. Aber wahrscheinlich hatte der Unglückselige ihn nicht abholen oder nicht rechtzeitig bezahlen können, sodass Olivier De Hule die Gelegenheit nutzte, ihn jetzt anderweitig loszuwerden. Schließlich war der Schneider ein Mann mit einem ausgezeichneten Sinn für Geschäfte, der die Gentlemen der besten Familien in Louisiana einkleidete. Aber das war David egal. Ohne Zweifel war das Kleidungsstück elegant und gut geschnitten, und er wollte sich so schnell wie möglich wieder wie ein zivilisierter Mensch kleiden. Außerdem würde sich dieser schmale Mann mit dem sorgfältig gestutzten Schnurrbart
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