Fesseln des Schicksals (German Edition)
richtete sich auf.
«Was soll das? Ich bin gekommen, um dich zu holen.»
«Es tut mir leid, aber ich bin nur ein Hindernis.»
«Das ist Unsinn.»
«Guck dir mein Bein an.»
In der Eile hatte Noah gar nicht bemerkt, dass der Knöchel seiner Mutter verbunden war.
«Es ist nichts Schlimmes», sagte sie schnell, um ihn zu beruhigen. «Ich bin nur umgeknickt, aber ich kann kaum laufen. Ich würde euch nur aufhalten.»
«Nein. Bestimmt nicht. Ich kann dich tragen.»
«Du weißt, dass das nicht geht, Noah. Nur wenn ich hierbleibe, habt ihr eine Chance. Wie schnell haben sie eine hinkende Sklavin gefunden, was glaubst du?»
Verzweifelt ließ Noah sich auf einen Stuhl fallen.
«Aber ich brauche dich. Ich kann nicht zulassen, dass du hierbleibst.»
«Mach dir um mich keine Sorgen. Mir geht es hier gut. Ich bin hier geboren, und ich werde hier sterben. Aber du verdienst etwas Besseres.»
«Wir verdienen alle etwas Besseres als das hier, Mama.»
«Vielleicht. Aber jetzt hast du andere Menschen, an die du denken musst. Deine Schwestern brauchen dich. Geh mit ihnen.»
«Aber …»
«Sei beruhigt, Noah. Wenn du dich retten kannst, geht es auch mir gut. Und jetzt geh!», drängte sie ein letztes Mal. «Ihr müsst euch beeilen.»
«Ich verspreche dir, Mama, dass ich eines Tages kommen werde, um dich zu holen.»
Zum zweiten Mal sah Velvet ihren Sohn weggehen. Aber diesmal war es anders. Diesmal würde ihr Sohn die Freiheit finden.
***
Charlotte zog Melodys altes Kleid aus und suchte sich eines von ihren eigenen aus dem Schrank. Nachdem sie ihr schmutziges Haar unter einem Hut versteckt hatte, leerte sie die Reisetasche aus, die Latoya für Hortensia gepackt hatte, und rannte zur Kommode.
«Was tust du, Charlotte?»
«Wir brauchen Geld.»
«Fahren wir denn nicht zu Großvater?»
«Nein», sagte Charlotte und kippte den Inhalt des Schmuckkästchens in die Tasche. «Wir müssen an Noah und seine Mutter denken.»
«Noah und seine Mutter?»
«Sie warten draußen auf uns. Und außerdem bin auch ich nach wie vor eine entlaufene Sklavin. Ich kann nicht im Süden bleiben.»
«Aber Großvater würde uns helfen.»
Charlotte hörte für einen Moment auf, wie rasend in den Schubladen zu stöbern, und sah ihre Schwester an.
«Es geht nicht.»
«Warum?»
«Vielleicht ist Großvater wie unser Vater!»
«Das kann nicht sein. Großvater liebt uns. Er würde verstehen … Niemand kann so sein wie unser Vater.»
«Wir können es nicht riskieren. Mama hat Großvater nie die Wahrheit erzählt.»
Hortensia wollte protestieren, aber sie wusste, dass ihre Schwester recht hatte.
«Wohin wollen wir dann?»
«In den Norden. Dort sind wir sicher.»
Charlotte beugte sich über die Frisierkommode. «Wo ist der Schmuck?», fragte sie, als sie nur ein paar Stücke fand.
«Das meiste ist in Mamas Zimmer. Aber hier liegt noch die Diamanthalskette mit den Ohrringen und dem Armband. Ich habe sie neulich getragen und hatte noch keine Gelegenheit, sie zurückzubringen. Und hier ist die Perlenkette, die ich morgen hätte umlegen sollen.» Hortensia zog eine Schublade auf und gab Charlotte den Schmuck.
«Und die Goldmünzen, die Großvater uns geschenkt hat?»
«Im Schrank.»
«Hol sie.»
Zusätzlich zu den Münzen legte Hortensia noch ein dickes Bündel Scheine in die Tasche. «Das hat Onkel Quentin mir gestern gegeben, es ist mein Hochzeitsgeschenk.»
«Das genügt», sagte Charlotte und sah sich noch einmal um. Sie wollte nichts von Wert zurücklassen. «Wir müssen los.»
Sie löschten das Licht, und Charlotte steckte vorsichtig einen Kopf zur Tür hinaus. Als sie sich vergewissert hatte, dass niemand da war, gab sie ihrer Schwester ein Zeichen.
Langsam schlichen die beiden durch das dunkle Haus. Vorsichtig setzten sie einen Schritt vor den nächsten, um kein Geräusch auf den Eichendielen zu machen. Sie hatten den Flur und den ersten Treppenzug schon geschafft, es fehlte nur noch ein kleines Stück bis ins Erdgeschoss, wo der Teppich des Empfangszimmers die letzten Schritte bis zur Tür dämpfen würde.
Als ihr Ziel zum Greifen nah war, ging auf einmal ein Licht an.
***
Als Noah zum Treffpunkt kam und Charlotte und Hortensia noch nicht da waren, wusste er, dass etwas schiefgegangen war.
Er musste herausfinden, was passiert war. Vorsichtig näherte er sich dem Haus, um durch ein Fenster in das Empfangszimmer zu spähen, aber alle Gardinen waren vorgezogen. Er versuchte, durch die Haupttür ins Haus zu gelangen, doch sie
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