Fesseln des Schicksals (German Edition)
geschlagen. «Ich bitte Sie um Entschuldigung dafür, dass ich Sie falsch beurteilt habe. Ich möchte keinesfalls, dass Sie etwas Unrechtmäßiges tun. Sie sollen ihm nur eine Chance geben. Lassen Sie mich Ihnen aus dem Leben unseres Bruders erzählen.» Einen Moment hielt Charlotte inne und beobachtete den Dekan, der zwar noch immer ein wenig verärgert schien, in dessen Augen man aber einen Funken Neugierde entdecken konnte.
«Unser Bruder ist als Sklave geboren. Im Süden bedeutet das, keine Rechte zu haben. Es bedeutet, nicht selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. Es bedeutet, auf Hoffnungen, Träume und Wünsche verzichten zu müssen. Weil man nichts ist. Weil man nur so viel wert ist wie irgendein Tier auf der Plantage.» Charlotte sah ihr Gegenüber fest an. «Sie wissen sicher, dass es im Süden gesetzlich verboten ist, dass Sklaven lesen und schreiben lernen. Wenn man einen Sklaven trotzdem dabei erwischt, wartet eine harte Strafe auf ihn. Er wird vor den Augen aller Sklaven der Plantage an einen Baum gebunden und ausgepeitscht, bis die Haut seines Rückens sich in Fetzen ablöst. Manchmal sind die Schnitte so tief, dass sie bis zum Knochen gehen. So ist Noah aufgewachsen, Sir. Er wusste, dass Bildung für Sklaven sehr gefährlich ist. In dieser schrecklichen Situation hat unsere Mutter aus Mitleid mit dem unehelichen Sohn ihres Mannes das Gesetz gebrochen und ihm das Lesen beigebracht. Lange Jahre hat sie das heimlich getan, und als sie ihm alles beigebracht hatte, was sie selbst wusste, hat sie ihm Bücher geschenkt, die er nur so verschlungen hat. Denken Sie daran, dass sein Leben jedes Mal in Gefahr war, wenn er ein paar Zeilen las oder seinen Namen schrieb. Aber das war ihm egal. Denn wenn er Descartes, Platon oder einen anderen Philosophen las, dann eröffneten sich ihm ungeahnte Welten. Wenn er sich in diese Bücher vertiefte, konnte sein Geist die Fesseln der Sklaverei hinter sich lassen, und er fühlte sich als freier Mensch. Und deshalb bitte ich Sie darum, ihm eine Chance zu geben. Eine Chance für einen Menschen, der sein Leben für seine Bildung riskiert hat.»
Als Charlotte fertig gesprochen hatte, glänzten ihre Augen. Selbst Hortensia war bewegt, und wenn sie nicht gewusst hätte, dass Charlotte die Geschichte ein wenig übertrieben erzählt hatte, wäre sie in Tränen ausgebrochen.
Der Dekan sah die beiden eine Weile lang nachdenklich an.
«Nun, es gibt da eine Möglichkeit, die nur in ganz besonderen Fällen Anwendung findet», sagte er schließlich. «Aber ich denke, dass der junge Mann diese Chance verdient. Wegen seiner eigenen Bemühungen und auch wegen des Risikos, das Ihre Mutter eingegangen ist. Im Juni kann Noah Lacroix eine Eingangsprüfung absolvieren. Eine Kommission wird ihn in den verschiedenen Fächern prüfen, die für das Medizinstudium notwendig sind. Wenn er diese Prüfung besteht, wird er im nächsten Jahr anfangen können.»
Charlotte sprang auf und umarmte Hortensia.
«Danke», sagte sie immer wieder und schüttelte die Hand des Dekans. «Ich versichere Ihnen, Sie werden es nicht bereuen.»
***
An Heiligabend standen Charlotte und Hortensia früh auf und fuhren noch einmal nach Cambridge. Bisher hatten sie Noah gegenüber ihren Besuch beim Dekan nicht erwähnt. Sie wollten ihm erst am Abend davon erzählen, es war ihr gemeinsames Weihnachtsgeschenk.
Mit der Liste der Bücher, die dem Dekan zufolge unabdingbar waren, liefen die Schwestern durch alle Buchhandlungen in Universitätsnähe. Sie suchten in verstaubten Regalen, stöberten in Hinterzimmern und wühlten in Körben voller Bücher aus zweiter Hand. Gegen Mittag konnten sie den letzten Titel von der Liste streichen. Danach wollte Charlotte unbedingt eine schöne grüne Schachtel kaufen, die zu finden sie fast noch mehr Mühe kostete. Aber aus einem Grund, den Hortensia nicht ganz verstand, musste es eine ganz bestimmte Schachtel sein, und so rannten sie durch alle Läden der Stadt, bis sie eine gefunden hatten, mit der Charlotte zufrieden war. Endlich kehrten sie nach Hause zurück, legten die fünf Bände in die Schachtel und versteckten sie bis zum Abendessen.
Als Charlotte und Hortensia ihrem Bruder beim Nachtisch die Schachtel übergaben, war Noah sprachlos, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Auch Charlotte war irgendwie bewegt, nur Hortensia verstand rein gar nichts.
«Du bist es also gewesen», sagte Noah zu Charlotte gewandt und strich über die Schachtel.
Charlotte senkte den
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