Fesseln des Schicksals (German Edition)
nicht.
«Perfekt», sagte er zufrieden und stand auf.
«Und wirst du uns jetzt erzählen, was passiert ist?»
«Es ist nichts passiert.»
Charlotte runzelte die Stirn. Sie glaubte ihm kein Wort.
«Wollen wir zu Abend essen?», schlug Hortensia vor.
«Ja, bitte», sagte Charlotte und ließ ihren Bruder erst einmal in Ruhe. «Ich habe einen Mordshunger.»
«Du hast immer einen Mordshunger», antworteten Noah und Hortensia im Chor.
***
Nach einer Woche fühlte Noah sich kräftig genug, um zur Arbeit zurückzukehren. Wieder führte die Entscheidung zu einem heftigen Streit zwischen ihm und Charlotte. Nachdem er mit einem lauten Türenknallen das Haus verlassen hatte, schimpfte Charlotte noch eine halbe Stunde vor sich hin.
«Verdammter Dickkopf.» Sie setzte sich in einen Sessel und dachte eine Weile nach.
Plötzlich sprang sie auf und rief: «Gerade ist mir das perfekte Weihnachtsgeschenk für Noah eingefallen. Komm, Schwesterherz, wir haben viel zu tun.» Bei diesen Worten rannte sie in die Diele, um Hut und Mantel zu holen.
Bevor Hortensia etwas dazu sagen konnte, hatten sie schon eine Kutsche genommen und fuhren auf die andere Seite des Flusses nach Cambridge, wo sich die angesehene Harvard-Universität befand.
Es waren noch zwei Tage bis Weihnachten, und die meisten Studenten waren schon nach Hause gefahren. Nur diejenigen, deren Familien zu weit entfernt wohnten, als dass sich die Reise für die kurzen Weihnachtsferien gelohnt hätte, waren geblieben. Als Hortensia und Charlotte auf dem Campus standen und sich suchend umguckten, bot sich einer von ihnen zuvorkommend an, die beiden zum Büro des Dekans zu begleiten.
«Hier ist es.» Der Student blieb vor dem Eingang zu einem Gebäude stehen. «Gehen Sie nur das Treppchen hinauf, dann kommen Sie direkt zum Sekretariat.»
«Sie waren sehr freundlich, danke», sagte Charlotte.
«Es war mir eine Ehre, die Damen. Wenn Sie noch etwas brauchen, fragen Sie nach William Van der Hooke, Abschlussjahrgang Rechtswissenschaft», stellte er sich vor. Dabei sah er Hortensia so tief in die Augen, dass sie errötete.
«Vielen Dank, Mr. Van der Hooke», sagte Charlotte, amüsiert über die Kühnheit des jungen Mannes.
«Auf Wiedersehen», sagte auch Hortensia und wurde noch etwas röter.
Gleich darauf standen sie im Vorzimmer des Dekans.
«Guten Tag», grüßte Charlotte und trat auf den Sekretär zu, der sich über einen Haufen Papiere gebeugt hatte. Der Mann blickte Charlotte über den Rand der kleinen Metallbrille hinweg leicht verärgert an.
«Womit kann ich Ihnen dienen?», fragte er kurz angebunden.
«Wir möchten bitte mit dem Dekan sprechen.»
Sogleich nahm der Mann ein Büchlein zur Hand und schlug es auf.
«Ihr Name?»
«Hortensia und Charlotte Lacroix.»
«Lacroix …», wiederholte er, während er die Liste der Namen durchging, die er für diesen Tag notiert hatte. «Es tut mir leid, leider hat der Dekan heute keinen Termin mit Ihnen.»
«Ich verstehe», nickte Charlotte. «Aber könnten Sie ihn wenigstens darüber in Kenntnis setzen, dass wir ihn sehen möchten? Vielleicht kann er uns trotzdem empfangen.»
Ungehalten runzelte der Mann die Stirn.
«Ich bitte Sie», sagte sie mit ihrem Engelsgesicht. «Wir haben eine so lange Reise aus dem Süden gemacht und können nur ein paar Tage bleiben», sagte sie mit bedrückter Stimme, wobei sie ihren Südstaatenakzent besonders betonte.
«Nun, der Herr Dekan befindet sich gar nicht in seinem Büro.»
Hortensia, die bisher nicht gewagt hatte, den Mund aufzumachen, seufzte nun sichtlich erleichtert auf. Aber Charlotte gab sich wie immer nicht so leicht geschlagen.
«Wird er denn heute noch zurückkommen?», fragte sie.
Anstatt zu antworten, zuckte der Sekretär nur mit den Schultern. Offensichtlich wusste er es selbst nicht.
«Wir sollten besser gehen, Charlotte», schlug Hortensia vor und zog ihre Schwester am Arm.
Einen Moment lang war Charlotte unschlüssig. Sie hatte nicht in Betracht gezogen, dass der Dekan gar nicht anwesend sein könnte.
«Können wir auf ihn warten?»
«Wenn Sie wünschen», antwortete der Sekretär kühl. «Aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob er wiederkommt.»
«Wir werden warten», verkündete Charlotte und setzte sich auf die Bank neben der Tür des Büros.
Zwei Stunden später, gegen Mittag, trat ein etwa sechzigjähriger Mann in einem eleganten dunklen Mantel ins Vorzimmer. Der Sekretär flüsterte ihm etwas zu und deutete auf die beiden jungen Frauen.
Der Herr
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