Fesseln des Schicksals (German Edition)
Almosen.»
«Es sind keine Almosen. Es ist Liebe! Du bist meine Schwester, meine Familie. Wenn es dir nicht gutgeht, geht es mir auch nicht gut.»
«Aber es wird mir gutgehen.»
Hortensia war noch nicht überzeugt.
Offensichtlich hatte Charlotte bereits einen Beschluss gefasst, und Hortensia wusste, dass nichts sie davon abbringen könnte. Sie runzelte die Stirn.
«Meinetwegen», gab sie jetzt widerwillig nach. «Aber wie willst du es anstellen?»
«Ich werde mit Brians Vater sprechen.»
«Mit Raymond O’Flanagan?»
«Er ist der Besitzer der auflagenstärksten Zeitung Bostons!»
«Ich sehe, du hast an alles gedacht.»
Charlotte hob leicht ihre Augenbrauen.
«Ist ja gut», lenkte Hortensia ein. «Ich werde mit Brian sprechen, vielleicht kann er etwas tun.»
«Das ist lieb von dir, aber ich möchte das selbst tun. Wenn ich Reporterin werden möchte, muss ich beweisen, dass ich es auch allein schaffe.»
«Wie du willst», nickte Hortensia, insgeheim davon überzeugt, dass Brians Vater keine Frau bei seiner Zeitung arbeiten lassen würde. «Aber wenn es Schwierigkeiten gibt, denk an mein Angebot.»
«Es wird keine Schwierigkeiten geben.»
***
Als Hortensia gegen Mittag aufbrach, bot sie ihrer Schwester an, sie in der Kutsche mitzunehmen und am Haus ihres Schwiegervaters abzusetzen. Sie selbst wohnte auch in der Beacon Street, allerdings ein paar Querstraßen weiter westlich auf dem ersten Stück Land, das aus den Sümpfen der Back Bay gewonnen worden war.
Aber Charlotte zog es vor zu warten. Sie wollte nicht so unhöflich sein und zur Mittagessenszeit hineinplatzen. Also aß sie erst einmal etwas und wartete geduldig darauf, dass die Uhr fünf schlug, die Zeit, in der man üblicherweise Besuche machte. Dann zog sie sich Stiefel und Mantel an. Ein dunkelblaues, fast schwarzes Modell, das sie günstig am Ende des letzten Winters gekauft hatte. Sie hatte Monate warten müssen, bis die Temperaturen wieder so weit gesunken waren, dass sie ihn anziehen konnte. Dazu hatte sie einen mit gelben Federn geschmückten Filzhut der gleichen Farbe erstanden, dessen Sitz sie nun im Spiegel prüfte. Dann ergriff sie ihre Handtasche und machte sich auf den Weg.
Zwar hätte sie durch den Park gehen können, aber es hatte die ganze Woche geregnet, und auch wenn jetzt die Sonne schien, waren die Sandwege durch die Grünanlagen sicher matschig. Weil sie vor ihrem zukünftigen Arbeitgeber nicht mit dreckigen Stiefeln erscheinen wollte, ging Charlotte also um den Park herum, auch wenn sie das doppelt so viel Zeit kostete.
Als sie vor Raymond O’Flanagans Tür stand, war der Saum ihres Kleides makellos, und kein bisschen Matsch klebte an ihren Stiefeln. Bevor sie klopfte, atmete sie tief ein.
«Guten Tag, Miss», begrüßte sie ein Butler, den Charlotte noch nie gesehen hatte.
«Guten Tag.»
«Womit kann ich dienen?»
«Ich möchte bitte mit Mr. O’Flanagan sprechen.»
«Wen darf ich melden?», fragte der Bedienstete und versperrte die Tür wie ein Wachhund.
«Charlotte Lacroix. Ich bin Hortensia O’Flanagans Schwester.»
Hortensias Name zeigte Wirkung.
«Treten Sie bitte ein», bat der Butler zuvorkommend, nachdem er einmal festgestellt hatte, dass die Unbekannte würdig war, die Schwelle zu übertreten. «Wenn Sie mich entschuldigen würden, ich sage Mr. O’Flanagan Bescheid. Sie können im kleinen Salon warten.» Mit einer eleganten Handbewegung wies er ihr den Weg.
Charlotte bedankte sich und trat ein.
Eine Minute später erschien Raymond O’Flanagan in Hemdsärmeln.
«Was für eine angenehme Überraschung», sagte er, kam ihr entgegen und begrüßte sie herzlich mit einem Kuss auf die Wange.
«Guten Tag, Mr. O’Flanagan», sagte Charlotte. «Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Vielleicht hätte ich Ihnen eine Nachricht schicken und mein Kommen ankündigen sollen.»
«Ich bitte dich! Die Familie ist immer willkommen. Aber ich fürchte, dass du zu spät bist. Beatriz ist gerade zu Brian und Hortensia gefahren. Diese Frauen!», seufzte er. «Sie ist vor Neugierde beinahe gestorben und wollte unbedingt wissen, wie es ihnen ergangen ist. Eine Mutter vermisst ihre Kinder immer. Du kannst dir vorstellen, jetzt, wo Brian und Peter umgezogen sind und Scott weg ist …»
«Ich verstehe», sagte sie.
«Es ist wirklich schade», klagte O’Flanagan. «Beatriz hätte sich sehr gefreut, dich zu sehen.»
«Ich hätte mich auch gefreut, aber eigentlich bin ich gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.»
«Mit
Weitere Kostenlose Bücher