Fesseln des Schicksals (German Edition)
Sie mich für undankbar halten, aber ich fürchte, dass ich Ihnen meine Fähigkeiten kaum zeigen kann, wenn ich an meinem Tisch sitzen bleibe.»
Ungehalten räusperte Spelman sich. Er hatte beschlossen, sich das Problem vom Hals zu schaffen, indem er die Dame an einen etwas abgelegenen Tisch setzte und Schreibarbeiten ausführen ließ, die auch ein Schüler hätte erledigen können.
«Miss Lacroix, ich fürchte, das ist für den Moment alles, was ich Ihnen anbieten kann. Vielleicht etwas später, wenn Sie besser verstehen, wie es hier in der Zeitung läuft …»
«Ich habe verstanden.» Charlotte blickte dem erstaunten Hugo Spelman in die Augen. Bisher hatte er die Augen der jungen Frau nie bemerkt. Jetzt fragte er sich, wie er sie nur hatte übersehen können.
«Reden wir Klartext», sagte Charlotte und legte die Rolle der arglosen Dame ab. «Sie wollen mich hier nicht.»
Eigentlich wollte Spelman etwas dagegen sagen, aber warum sollte er das Offensichtliche leugnen.
«Sagen Sie nichts, ich kann Sie verstehen. Sie befinden sich in einer komplizierten Situation. Sie wollen mich eigentlich loswerden, möchten aber Mr. O’Flanagan auch nicht sagen, dass Sie seinen Schützling entlassen mussten.»
«Wie ich sehe, haben Sie die Lage perfekt erfasst.»
«Ich glaube, ich kann Ihnen eine Lösung anbieten.»
Hugo horchte auf. Vielleicht hatte er sich vom Äußeren der jungen Frau oder von ihrem Südstaatenakzent täuschen lassen. Es handelte sich offensichtlich um eine Frau mit Charakter.
«Ich höre.»
«Sie wollen mich loswerden. Und ich möchte Ihnen einfach nur zeigen, dass ich dieser Arbeit gewachsen bin. Ich bitte Sie nur um eine einzige Chance. Wenn sich zeigt, dass ich die Arbeit nicht machen kann, werde ich freiwillig gehen.»
Nachdenklich sah Hugo sie an und wog Charlottes Vorschlag ab. Nun. Wenn sie unbedingt auf die Straße wollte, dann würde er es ihr gestatten.
«Meinetwegen.»
«Abgemacht», sagte Charlotte und drückte die Hand des Herausgebers.
«Abgemacht», wiederholte Spelman zufrieden. Sicher wäre er die junge Frau schon bald wieder los.
***
Am nächsten Tag stand Charlotte im Morgengrauen auf. Sie zog sich bequeme Schuhe an, steckte ein paar Blätter und einen Stift ein und lief schnell in die Redaktion.
«Guten Morgen, Mr. Spelman», begrüßte sie ihren Chef, als er eintrat.
«Miss Lacroix. Ich sehe, Sie sind früh aufgestanden.»
«Ich kann es kaum erwarten anzufangen», sagte sie, und als ihr Chef sie mit einer Handbewegung aufforderte, ihm zu folgen, sprang sie auf.
Nachdem Spelman sich in aller Ruhe seines Mantels entledigt und den Hut auf die Ablage gelegt hatte, setzte er sich.
«Wollen wir doch mal sehen.» Schnell überblickte er einen Stapel kleiner Kärtchen, auf die Nachrichten gekritzelt waren, die am nächsten Tag gebracht werden mussten. Schließlich blieben seine schlauen Äuglein an einer Karte am äußersten Rand des Tisches haften. Lächelnd nahm er sie in die Hand.
«Miss Lacroix», sagte er, während er sie Charlotte übergab, «Sie werden heute Ihren ersten Artikel schreiben.»
Vor Aufregung zitterte Charlotte fast ein bisschen.
«Matrose im Hafen erstochen», las sie jetzt laut vor und stockte.
«Anscheinend ist der Mann in einer Kneipe verblutet, und niemand will etwas gesehen haben.»
«O mein Gott!»
«Es ist im Norden passiert. Ana Street.»
«Entschuldigen Sie, haben Sie Ana Street gesagt?»
«Ja, auf der Höhe des Hafens.»
Charlotte schluckte.
«Sie meinen die Gegend, die man Black Sea nennt?»
«Genau dort.»
Charlotte lief es kalt den Rücken hinunter. Jedes Kind wusste, dass man diese Straße besser mied.
«Wenn Sie glauben, dass Sie das nicht leisten können …», warf Spelman ein. Zufrieden hatte er festgestellt, dass die junge Frau blass geworden war, und streckte die Hand nach dem Kärtchen aus.
Aber Charlotte presste es sich rasch gegen die Brust. Mit bebenden Nasenflügeln warf sie Spelman einen zornigen Blick zu.
«Kein Problem», sagte sie und steckte sich das Kärtchen in die Handtasche. «Toter Seemann am North End», wiederholte sie, drehte sich um und spazierte aus dem Büro.
Selbst als sie auf die Straße hinausging, war sie noch so wütend, dass sie eine tiefe Pfütze mitten auf dem Weg übersah.
«Das hat mir gerade noch gefehlt», rief sie mit den Füßen im Wasser. «Aber dieser Mistkerl irrt sich, wenn er glaubt, dass er mich damit loswird!», schimpfte sie laut und zog die Blicke einiger Passanten auf
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