Fesseln des Schicksals (German Edition)
selbst hat die Stadt verlassen.»
Seit sie ihn kannte, hatte Scott Boston nur wenige Male verlassen, und immer war es um seine juristischen Feldzüge gegangen.
Aufmerksam beobachtete Hortensia die Reaktion ihrer Schwester.
«Ach, das wusste ich nicht. Weißt du, wann er zurückkommt?»
Hortensia schwieg einen Moment und sah ihrer Schwester in die Augen.
«Scott wird nicht zurückkommen, Charlotte.»
Einen Moment lang stockte ihr der Atem. Es war, als hätte sich ein grauer Schatten um ihre Seele gelegt. Zum zweiten Mal hatte ein Mann sie verlassen. Und Scott hatte sich nicht einmal verabschiedet. Charlotte hatte ihren besten Freund verloren. Langsam wurde ihr klar, dass nichts mehr so sein würde wie früher.
«Es tut mir leid, Charlotte. Aber ich musste es dir sagen.»
«Es ist in Ordnung. Es macht mir nichts aus», sagte Charlotte. «Wahrscheinlich ist es besser so.»
Doch Hortensia sah das verräterische Glänzen in Charlottes Augen. Sie war tiefer getroffen, als sie zugeben wollte.
«Charlotte? Geht es dir wirklich gut?»
«Entschuldige, was hast du gesagt?»
«Geht es dir gut?»
«Sicher. Es ist nichts», lächelte sie. «Die Nachricht hat mich überrascht, aber mir geht es gleich besser. Versprochen.»
Hortensia war besorgt. «Warum ziehst du nicht zu uns? Das Haus ist groß genug.»
«Ich will euch nicht stören.»
«Du störst nicht. Brian findet auch, dass es eine gute Idee ist.»
«Brian findet, dass es eine gute Idee ist, weil er dich viel zu sehr liebt, um dir etwas abzuschlagen.»
«Kommt beide zu uns», bat Hortensia sie. «So könnten wir uns jeden Tag sehen.»
«Wir können uns auch so jeden Tag sehen. Außerdem werde ich die Tage nicht mehr lange allein verbringen. Ich habe beschlossen, mir eine Arbeit zu suchen.»
Überrascht trat Hortensia einen Schritt zurück und sah ihre Schwester von oben bis unten an.
«Arbeit? Du?»
«Ja», sagte Charlotte entschlossen. «Ich habe in den letzten Wochen oft darüber nachgedacht. Ich glaube, es würde mir guttun. Ich wäre beschäftigt, und obwohl noch etwas von dem Schmuck übrig ist, könnte ein wenig Extrageld nicht schaden, jetzt, wo Noah studiert.»
«Wenn es wegen des Geldes ist, mach dir keine Gedanken. Ich werde mit Brian sprechen. Er wird sich darum kümmern.»
«Tu das nicht. Ich möchte nicht, dass ein Mann unsere Probleme lösen muss, als wären wir hilflose Geschöpfe, die nicht für sich selbst sorgen können. Ich möchte die Gewissheit haben, dass ich auch allein zurechtkomme. Dass ich meinen Weg selbst wählen kann. Es ist nicht nur das Geld, Hortensia. Ich habe einfach Lust, etwas zu tun. Ich muss mich irgendwie beschäftigen.»
«Es gibt tausend Dinge, mit denen du dich beschäftigen könntest, ohne arbeiten zu müssen. Du könntest nähen oder spazieren gehen.»
«Hortensia, bitte. Siehst du mich tatsächlich Taschentücher umhäkeln oder Strümpfe stopfen?»
«Nein», musste sie zugeben. «Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du arbeitest. Du kannst ja nicht einmal dein eigenes Haus in Ordnung halten. Was willst du denn tun?»
«Ich werde Reporter.»
«Reporter!», wiederholte Hortensia. «Das ist ein Beruf für Männer.»
«Aber ich verstehe nicht, warum», protestierte sie. «Als Reporter muss man nur Fragen stellen und schreiben. Ich denke nicht, dass das so schwierig ist.»
Bei der Vorstellung, dass Charlotte ihre Nase in alle möglichen Dinge steckte, standen Hortensia die Haare zu Berge.
«Ich weiß nicht. Eine Frau ganz allein. Wer weiß, wo du überall hinmusst und mit was für Leuten du dich abgeben müsstest. Nein, ich glaube, es ist keine gute Idee», redete sie auf Charlotte ein. «Vielleicht gibt es irgendeine andere Möglichkeit. Und außerdem: Was sollen die Leute denken!»
«Sollen sie denken, was sie wollen. Sollen sie doch reden, wenn sie wollen. Sie tun es doch ohnehin. Dann hätten sie wenigstens etwas zu sagen. Ich mache schließlich nichts Ungehöriges. Es wäre schön, wenn du mich verstehst.»
«Ich verstehe es ja», gab Hortensia zu und stellte sich vor, wie Charlotte mit Block und Bleistift hinterm Ohr durch die Stadt rannte. Sie seufzte. «Eigentlich macht mir am meisten Angst, dass es genau die richtige Arbeit für dich wäre. Trotzdem, denk bitte über mein Angebot nach.»
«Versteh doch, ich will einfach nicht die typische, arme alte Jungfer sein, die ihrer Familie zur Last fällt. Ich möchte gern auf meine eigene Art und Weise zurechtkommen. Ich will keine
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