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Fesseln des Schicksals (German Edition)

Fesseln des Schicksals (German Edition)

Titel: Fesseln des Schicksals (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Gallaga
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wichtigen Ärzte der Stadt.»
    Der Professor schwieg einen Moment lang.
    «Das stimmt», sagte er dann ehrlich. «Aber Sie sind nun einmal nicht wie die anderen, Mr. Lacroix, und das wissen Sie. Sehen Sie mich nicht so an. Ich hege gewiss keine Vorurteile in dieser Hinsicht. Ein Chirurg weiß, dass die Menschen alle gleich sind. Sie sind ein hochintelligenter Mann, vielleicht sogar der beste Schüler, den ich je hatte. Aber das macht die Sache für Sie leider nicht einfacher. Sie haben recht. Unter anderen Umständen würden Sie Ihre praktische Ausbildung woanders machen. Aber leider wollte keiner der Ärzte Sie als seinen Assistenten annehmen.»
    Diese Möglichkeit hatte Noah gar nicht in Betracht gezogen. «Das … das wusste ich nicht.»
    «Nun, jetzt wissen Sie es. Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Posten natürlich ablehnen, aber Sie würden dort viel lernen. Außerdem denke ich, dass Sie besser als jeder andere in der Lage sind, die besondere Situation der Menschen zu verstehen, die im General Hospital behandelt werden. Mittellose Menschen. Männer, Frauen und Kinder, die sich damit abfinden müssen, von Personen behandelt zu werden, die oftmals noch nicht einmal Ärzte sind. Hätte ich ihnen vielleicht meinen schlechtesten Studenten schicken sollen? Sind Sie vielleicht zu gut für diese Leute? Die erste Pflicht eines Arztes ist es, den Kranken zu helfen. Arm oder reich, Mr. Lacroix. Ich dachte, dass Sie das besser als jeder andere verstehen.»
    Beschämt senkte Noah den Kopf.
    «Also?»
    «Es tut mir leid, Professor Watson. Es wird mir eine Ehre sein, meine praktische Ausbildung dort zu machen, wo Sie mich hingeschickt haben. Guten Abend, Professor.»
    Watson sah Noah nach, als der sein Büro verließ. Dann setzte er sich die Brille wieder auf und versuchte, den nächsten Absatz zu entziffern.

    Charles Bulfinch, der Architekt, der auch beim Bau des Kapitols in Washington mitgewirkt hatte, war damit beauftragt worden, das Massachusetts General Hospital zu erbauen. Von außen sah man nur seine elegante, neoklassizistische Fassade, aber sobald ein Besucher das Gebäude betrat, bot sich ihm ein ganz anderer Anblick.
    Ein neuerlicher Choleraausbruch in den Armenvierteln der Stadt hatte dazu geführt, dass die Kapazitäten des Krankenhauses vollkommen erschöpft waren. Da die Betten besetzt waren, wurden die Kranken in die Gänge gelegt, zuerst noch auf Feldbetten, schließlich aber einfach auf den Fußboden.
    Als Noah die Station betrat, auf der die Cholerapatienten gesammelt wurden, musste er sich ein Taschentuch vor das Gesicht drücken, um sich vor dem Gestank zu schützen. Aus Angst, sich anzustecken, hatten die wenigen Angestellten die Infizierten ihrem Schicksal überlassen.
    Seufzend zog er seinen Mantel aus und schlüpfte in einen Kittel, und ohne Rat oder Hilfe zu suchen, machte er sich daran, die Kranken zu behandeln. An seinem ersten Vormittag starben fünf Menschen an Flüssigkeitsmangel, ein sechster verblutete nach einer missglückten Operation.
    Am Nachmittag wurde er in das Büro des Krankenhausdirektors Frederick Hougan bestellt.
    Noah hatte Gerüchte über dessen Morphinsucht gehört, hatte ihnen aber keinen Glauben geschenkt, bis er ihm nun gegenüberstand. Trotz des Dämmerlichts blieben Hougans Pupillen zwei winzige Pünktchen, seine Hände zitterten, und er trank ständig Wasser. Ohne den Einfluss seines reichen Onkels würde er diesen Posten nicht mehr lange bekleiden.
    Als Hougan merkte, dass Noah ihn aufmerksam beobachtete, nahm er die Hände vom Tisch, um das Zittern zu verbergen.
    Die Unterredung dauerte nicht lange. Nach einer kurzen Begrüßung teilte Hougan ihm mit, dass Noah sich beim Chefarzt der Chirurgie im ersten Stock melden solle.
    Als er dort Professor Watson antraf, der mit seinem makellosen weißen Kittel in dieser dunklen Welt beinahe wirkte wie ein Sonnenstrahl, blieb Noah überrascht stehen.
    «Professor?»
    «Mr. Lacroix. Ich habe Sie schon erwartet.»
    «Aber … Ich soll mich doch beim Chefarzt der Chirurgie melden.»
    «Der vor Ihnen steht. Ich arbeite jeden Nachmittag hier.»
    «Das wusste ich nicht.»
    «Das ist auch kaum jemandem bekannt. Da es dabei bleiben soll, hoffe ich, dass Sie mein Geheimnis nicht verraten.»
    «Natürlich nicht, Professor.»
    «Begleiten Sie mich bei meinem Rundgang», sagte er. «Ich suche schon lange einen Assistenten.»
    Noah konnte sein Glück kaum fassen. Noch vor zwei Tagen hatte er geglaubt, dass er nie ein guter Arzt werden

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