Fesseln des Schicksals (German Edition)
würde, und jetzt bot der beste Chirurg der Stadt ihm an, ihn als seinen persönlichen Assistenten zu nehmen. Für diese Chance wären einige seiner Mitstudenten zu einem Mord bereit gewesen.
«Es wird mir eine große Ehre sein», antwortete Noah und folgte seinem Lehrer zu seinem ersten Patienten.
***
Am 21. Juli 1861 musste die Union bei Bull Run, Manassas, ihre erste Niederlage hinnehmen.
Noah erfuhr davon, als er sich gerade auf dem Weg ins Krankenhaus befand. Er hatte immer angenommen, dass der Norden gewinnen würde, schließlich war das Recht auf seiner Seite.
Nachdem Noah die Wunde des Patienten zugenäht hatte, den Professor Watson heute operiert hatte, vergewisserte er sich noch, dass er wieder aufwachte, als die Wirkung des Äthers nachließ, und begab sich dann ins Büro seines Mentors.
«Entschuldigen Sie, Professor. Ich muss mit Ihnen sprechen.»
Der Arzt saß hinter seinem Schreibtisch und forderte ihn mit einer Handbewegung auf einzutreten. Noah gehorchte und schloss die Tür hinter sich.
«Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Geschick, Mr. Lacroix. Sie haben exzellente Arbeit geleistet.»
«Danke.»
«Wenn Sie so weitermachen, können Sie in ein paar Wochen selbst einen Eingriff durchführen. Selbstverständlich unter meiner Aufsicht.»
Noah errötete. In den anderthalb Monaten, die er jetzt am Operationstisch assistierte, hatte der Professor ihn noch nie gelobt.
«Ist etwas nicht in Ordnung, junger Mann?»
«Ich möchte mich nur bei Ihnen bedanken. Für alles, was Sie für mich getan haben. Ohne Ihre Hilfe hätte ich das nie geschafft.»
«Unterschätzen Sie Ihre Leistung nicht. Das Verdienst gebührt Ihnen allein.»
«Doktor, ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Ich werde mich freiwillig als Soldat melden.»
Plötzlich veränderte sich Professor Watsons Gesichtsausdruck.
«Darf ich fragen, warum?»
«Es ist meine Pflicht.»
«Ihre Pflicht?», wiederholte er sarkastisch und sah ihn fest an. «Sie sind Arzt. Ihre Pflicht ist es, Leben zu retten, nicht Leben zu zerstören!»
«Es tut mir leid, Professor. Aber meine Leute brauchen mich. Ich kann mich nicht einfach raushalten, während die Weißen meinen Krieg für mich ausfechten.»
«Unsinn!», rief Watson aus und schlug wütend auf den Tisch.
Überrascht über diesen plötzlichen Ausbruch, blickte Noah den Professor an.
«Glauben Sie denn, dass der Krieg etwas verändert? Denken Sie, die Dinge werden wirklich anders für die Farbigen, wenn der Norden gewinnt? Machen Sie sich nichts vor. Ihrem Volk gegenüber haben Sie einzig und allein die Pflicht, Arzt zu werden. Sie führen bereits einen Krieg, Mr. Lacroix. Und dieser Krieg findet hier statt. Wenn Sie Ihrem Volk helfen wollen, werden Sie ein guter Arzt. Zeigen Sie den Weißen, was Sie können.»
«Es tut mir leid, Professor, aber ich kann nicht.»
Fast fürchtete Noah, dass Watson aufstehen und ihn schütteln würde, um ihn zur Vernunft zu bringen, aber der Professor blieb reglos sitzen. Schweigend sah er seinen Schüler an, bevor er weitersprach.
«Wenn Sie wirklich glauben, dass Sie das tun müssen, dann gehen Sie. Ich werde Sie nicht aufhalten.»
«Auf Wiedersehen, Doktor Watson», sagte Noah.
«Viel Glück, Mr. Lacroix», antwortete der Professor, aber er sah ihn schon nicht mehr an. Er wollte es nicht wahrhaben, dass der Krieg ihm seinen besten Schüler wegnahm. Seitdem er gesehen hatte, wie Noah seine ersten Stiche machte, hatte er gewusst, dass dieser Mann dafür geboren war, Chirurg zu werden. Seine ruhige Hand, von einem wachen und intelligenten Geist geführt, zögerte niemals. Obwohl er kühl wirkte, war er doch ein mitfühlender Mann, der die Leiden seiner Patienten verstehen konnte. Fast bewunderte Watson seinen jungen Schüler. Er war davon überzeugt, dass ein außergewöhnlicher Arzt aus ihm werden würde. Jetzt schloss er die Augen und betete dafür, dass dieser absurde Krieg ihm das Leben ließ.
Mit gesenktem Kopf kam Noah in die Beacon Street. Es war schon hart gewesen, dem Professor seinen Entschluss mitzuteilen, aber es würde noch schlimmer sein, es Charlotte beizubringen.
«Nein, nein und nochmals nein!», rief Charlotte, als sie von Noahs Plänen erfuhr. «Du darfst dich nicht freiwillig melden.»
«Du kannst nichts dagegen tun. Ich habe mich entschieden.»
Hortensia, die in ein paar Wochen ihr Kind zur Welt bringen würde, saß in einem Schaukelstuhl. Noah stand vor ihr, und Charlotte hatte ihm trotzig den Rücken zugekehrt.
«Versteh
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