Fesseln des Schicksals (German Edition)
doch, Charlotte. Ich kann hier nicht einfach abwarten, während andere ihr Leben riskieren.»
«Das ist doch Irrsinn. Niemand hat sie darum gebeten, sich freiwillig zu melden. Wenn sie sich gegenseitig umbringen wollen, bitte. Aber nicht du, Noah. Wir brauchen dich hier.»
«Das stimmt nicht, Charlotte. Außerdem weißt du, dass ich auch an meine Mutter denken muss.»
«Noah, ihr wird es gutgehen. Die Front ist weit genug von New Fortune entfernt.»
«Ich muss gehen.»
«Nein!», schrie Charlotte verzweifelt. «Du musst nirgendwohin gehen. Glaubst du, Velvet würde es gefallen, dass du dich abknallen lässt?»
Hortensia zuckte zusammen. Seit Wochen hatte sie nichts von Brian gehört, der an der Front war, und Charlottes Worte trugen nicht gerade dazu bei, sie zu beruhigen.
«Verzeih, Hortensia. Ich weiß einfach nicht, was ich diesem Dickkopf sonst sagen soll, damit er zur Vernunft kommt.»
«Noah, überleg es dir gut», mischte Hortensia sich jetzt ein. «Ich würde es nicht ertragen, wenn dir etwas passiert.»
«Mir wird nichts passieren, das verspreche ich euch», versuchte er, seine Schwestern zu beruhigen.
«Wie kannst du sagen, dass dir nichts passieren wird? Im Krieg ist niemand sicher.»
Wieder zuckte Hortensia zusammen.
Noah wusste, dass er Charlotte nicht von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugen könnte. Aber sein Entschluss stand fest. Noah hatte eine Rechnung zu begleichen. Als Soldat würde er sein Gewehr laden und sich endlich den Männern entgegenstellen, die ihn sein ganzes Leben lang gedemütigt hatten.
«Ich brauche dein Einverständnis nicht, Charlotte. Im Krankenhaus habe ich schon Bescheid gegeben, dass ich von meiner Arbeit zurücktrete. Meine Tasche ist gepackt. Heute Nachmittag geht mein Zug nach Washington, wo ich mich melden werde.»
«Sie werden dich nicht nehmen!»
«Doch, das werden sie.»
«Wie du willst», platzte sie wütend heraus und stampfte mit dem Fuß auf, als wollte sie auf ihn losgehen. «Wenn du unbedingt willst, dass sie dir diesen harten Dickschädel durchlöchern, mach doch, was du für richtig hältst!», fluchte sie und rannte auf ihr Zimmer.
Noah und Hortensia blieben allein im Salon zurück.
«Sie wird sich beruhigen.»
«Ich weiß.»
«Gibt es denn nichts, was dich davon abbringen kann?»
Noah blickte zu Boden. Mühevoll stand Hortensia auf und gab ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange.
«Versprich mir, dass du auf dich aufpasst und wohlbehalten zurückkommst, Noah.»
«Das verspreche ich dir, Hortensia.»
Obwohl Hortensia ihm angeboten hatte, ihn zum Zug zu begleiten, zog Noah es vor, allein zu gehen. Er mochte keine Abschiede. Sie erinnerten ihn an den Tag, an dem er auf New Fortune von seiner Mutter getrennt worden war. Er verabschiedete sich mit einer Umarmung von Hortensia und verließ das Haus.
Draußen wartete schon die Kalesche.
Noah war traurig. Der Streit mit Charlotte schmerzte ihn, und obwohl Hortensia sich bemüht hatte, gefasst zu bleiben, war sie schließlich doch in Tränen ausgebrochen. Und Charlotte war nicht heruntergekommen, um sich zu verabschieden. Dafür war sie viel zu stur. Nachdem der Kutscher seine Tasche im Wagen verstaut hatte, drehte Noah sich noch einmal um und sah instinktiv zu den Fenstern im ersten Stock. Die Gardinen waren halb vorgezogen, und man konnte nichts erkennen. Gerade wollte Noah sich enttäuscht auf den Weg machen, als er Charlotte entdeckte, die ans Fenster getreten war und ihn ansah. Die flache Hand gegen die Scheibe gedrückt, formte sie mit den Lippen einen Abschiedsgruß. Noah lächelte und legte seine Hand aufs Herz.
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P ünktlich fuhr der Zug aus dem Bostoner Bahnhof ab. Noah würde lange unterwegs sein. Er starrte aus dem Fenster. Seine Gedanken trugen ihn immer wieder in seine Kindheit zurück, in die Zeit, als er über die Felder von New Fortune gelaufen war. Als er endlich einschlief, träumte er, dass alles ganz anders war. Er lebte im Herrenhaus, sein Vater war da und hielt ihn auf dem Arm, während seine Mutter in einem hübschen Kleid auf der Veranda saß und ihnen zulächelte. Noah war glücklich. Dann riss ihn das Pfeifen des Zuges in die Realität zurück. Der Zug war mitten auf der Strecke stehen geblieben, weil vor ihm ein Lastwaggon auf dem Weg zur Front nicht weiterkam.
Erst um acht Uhr abends, mit mehr als fünf Stunden Verspätung, kam Noah an seinem Ziel an. Das Einzugsbüro der Stadt war schon geschlossen. Er würde einen Platz zum Übernachten
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