Fesseln des Schicksals (German Edition)
halben Jahr, in dem sie schon bei der Zeitung arbeitete, hatte sie es nur am ersten Tag geschafft, pünktlich zu erscheinen.
«Guten Morgen, Frank», grüßte Charlotte, zog schnell den Mantel aus und ließ sich auf ihren Sitz gleiten, wobei sie die Tür zu Spelmans Büro keinen Moment lang aus den Augen ließ.
«Hallo, Charlotte», antwortete der Mann mit dem rundlichen Gesicht und dem großzügigen Bauchumfang am benachbarten Schreibtisch, der sich um den Wirtschaftsteil kümmerte. «Du kannst beruhigt sein. Er ist noch nicht da.»
«Ein Glück. Ich habe heute wirklich keine Lust, mir Spelmans Theater anzuhören.»
«Du könntest ja auch einfach mal pünktlich kommen …»
«Ich weiß ja», entschuldigte sie sich. «Aber gestern ist es wirklich spät geworden. Ich war auf einem Empfang beim Gouverneur und bin erst im Morgengrauen nach Hause gegangen. Ich habe kaum geschlafen.»
Anerkennend hob Frank die schmale dunkle Linie seiner Augenbrauen.
«Du bist wirklich unglaublich, Charlotte.»
«Gibt es denn Neuigkeiten? Warum ist der Chef nicht im Büro?»
«Er ist bei Raymond O’Flanagan. Anscheinend ist irgendetwas Ernstes im Gange», flüsterte er ihr vertraulich zu.
«Kann schon sein, jetzt, wo du es sagst. Auf dem Empfang gestern war einiges los. Die Männer haben sich ziemlich lange zurückgezogen, und als sie wieder herauskamen, sahen sie besorgt aus.»
«Dann gibt es wohl keinen Zweifel.»
«Was meinst du, Frank?»
«Ich habe Gerüchte gehört, dass Fort Sumter angegriffen wurde.»
«O mein Gott!», rief Charlotte aus. Sie konnte es kaum glauben. Obwohl die politische Situation immer schwieriger geworden war, seit sich sieben der Südstaaten von der Union der Vereinigten Staaten getrennt hatten, hätte Charlotte es niemals für möglich gehalten, dass sie zu den Waffen greifen würden. Aber dann war Fort Sumter in South Carolina, wo sich eine Garnison des Unionsheers aufhielt, belagert worden, und die Lage hatte sich zugespitzt. Die konföderierten Südstaaten hatten gefordert, dass sich das Fort ergeben sollte, aber Lincoln, der vor kurzem erst ins Weiße Haus eingezogen war, war nicht bereit gewesen, klein beizugeben. Die Belagerung von Fort Sumter hatte sich zu einer Kraftprobe entwickelt, bei der jeder falsche Schritt fatale Folgen haben konnte.
Das Wort «Krieg» wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Auf dem Nachhauseweg begegnete Charlotte einigen Demonstranten, die zum Kampf aufriefen. Die Leute jubelten und lachten, und sobald jemand einen neuen Slogan in die Menge rief, wurde er begeistert aufgenommen. Es wirkte beinahe wie ein Fest. Hatte die ganze Welt den Verstand verloren?
Charlotte kam furchtbar niedergeschlagen zu Hause an. Mechanisch suchte sie ihren Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie zuerst gar nicht bemerkt hatte, dass jemand neben der Haustür wartete.
«Brian!», rief sie aus und fuhr zusammen. «Geht es Hortensia gut?»
Seit ein paar Monaten war ihre Schwester schwanger, und in den letzten Wochen hatte sie sich hin und wieder unwohl gefühlt.
«Keine Sorge, sie ist wohlauf. Aber ich muss mit dir reden.»
Charlotte öffnete die Tür, und sie traten ein. Die Garderobe war voll, also legte Charlotte ihren Mantel über das Treppengeländer.
«Setz dich doch bitte», sagte Charlotte und schob einen Stapel Zeitungen vom Sofa auf den Boden. «Möchtest du einen Tee?»
«Nein danke, Charlotte.»
Brian wirkte so ernst, dass Charlotte anfing, sich Sorgen zu machen.
«Sag, was ist los?»
«Ich nehme an, dass du die Gerüchte gehört hast?»
«Du meinst über den … Krieg?»
Brian nickte.
«Das sind nur Gerüchte, Brian. In ein paar Wochen ist alles wieder beim Alten.»
«Diesmal nicht, Charlotte. Fort Sumter wird nicht lange durchhalten. Wenn keine Verstärkung kommt, haben sie in ein paar Stunden keine Munition mehr. Sie werden sich ergeben müssen.»
«Dann ist in ein paar Stunden alles vorbei», rief sie und stürzte sich auf die Hoffnung, die das Wort «ergeben» in ihr wachrief.
«Mach dir nichts vor. Der Norden kann nicht einfach so tun, als hätte es diesen Angriff nicht gegeben. Lincoln wird das nicht vergessen. Das kann er nicht. Mit dem Angriff auf das Fort hat der Süden Lincoln die Rechtfertigung geliefert, die er gebraucht hat. Er wird zurückschlagen.»
Charlotte spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog.
«Ich wurde in das Krisenkabinett berufen. In zwei Tagen breche ich nach Washington auf. Es gibt
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