Fesseln des Schicksals (German Edition)
Entfernung von den Gästen. Aber jedes Mal wenn Gwendolyns Blick auf jene schöne Frau fiel, der das rote Kleid wie angegossen passte, kochte das Blut in ihren Adern.
Seit der Geburt ihrer Tochter hatte Gwendolyn das Kleid nicht mehr getragen. Über vier Wochen Hungern und Verzicht waren nötig gewesen, bis es wieder passte, aber sie konnte darin kaum atmen. Zwei Sklavinnen hatten das Korsett mit vereinten Kräften geschnürt, bis sie das Kleid zuhaken konnte, ohne dass die Nähte platzten. Eine der beiden hatte sogar gewagt vorzuschlagen, es etwas weiter zu machen. Aber sie hatte das abgelehnt. Sie würde ihre alte Figur wiederbekommen. Wenn es nötig sein sollte, würde sie eben aufhören zu essen. Sie hatte schön sein wollen. Schöner als David Parrishs Ehefrau, die den Neid des ganzen County auf sich zog. Und jetzt stand sie vor dieser Sklavin mit ihrer Wespentaille, den wohlgeformten Schultern und den schönen grünen Augen, und ihr Übergewicht war überdeutlich. Der eigene Anblick kam ihr plötzlich lächerlich vor. Nicht einmal das Korsett hatte den Bauchspeck vollkommen wegdrücken können. Hätte sie doch einen Gürtel umgelegt, um ihn zu kaschieren! Am liebsten hätte sie dieser unverschämten Sklavin, die es wagte, sich wie eine Weiße anzuziehen, eigenhändig die Kleider vom Leib gerissen.
Den ganzen Abend aß sie keinen Bissen. Dafür redete sie ununterbrochen mit schriller Stimme und langweilte ihre Gäste mit ihrem affektierten Gehabe.
Der Gastgeber hingegen, der seine Ehefrau keines Blickes würdigte, sparch nur sehr wenige Worte. Sein Hauptaugenmerk lag zweifelsohne auf den Speisen vor ihm auf dem Teller.
Aus ihrer stillen Ecke konnte Molly alles beobachten. Hinterher würde Katherine wissen wollen, was während des Essens geschehen war und was Molly davon hielt. Sie war schon bei vielen Feiern zugegen gewesen und hatte zahlreiche Küchen gesehen, und ihr war bewusst, dass die täglichen Mahlzeiten der Burtons anders aussahen als das Übermaß an Speisen, das an diesem Abend aufgetischt wurde. Nur fünf Personen waren eingeladen. Mr. Rockwater plauderte angeregt mit Katherine, wobei er ständig den Kopf zur Seite neigen musste, weil das Blumengesteck in der Mitte des Tisches eindeutig zu hoch angelegt war. Seine Ehefrau Cynthia Rockwater und David lauschten angeregt den Geschichten des mit David befreundeten jungen Armeeoffiziers Ross Dugan, der gerade aus dem Westen zurückgekehrt war. Mr. Burton speiste stumm, und Gwendolyn gab sich alle erdenkliche Mühe, die Aufmerksamkeit ihrer Gäste auf sich zu lenken. Nur leider hatten alle Anwesenden schon mehr als einmal Gelegenheit gehabt, sie von ihren Reisen in die Nordstaaten sprechen zu hören.
Das Abendessen schien kein Ende zu nehmen. Schon seit zwei Stunden stand Molly reglos an ihrem Platz. Sie war müde, und der Duft der Speisen, die unablässig an ihr vorbeigetragen wurden, erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie seit dem Mittagessen nichts mehr zu sich genommen hatte. So gern wollte sie sich irgendwo anlehnen, und eigentlich sah es so aus, als würde niemand auf sie achten. Gwendolyn war vollauf damit beschäftigt, sich mit Cynthia über einen Ball zu unterhalten, der nächste Woche in Richmond stattfinden sollte.
Derart darin versunken, die Gäste zu beobachten, achtete Molly gar nicht mehr auf die Sklaven, die durch eine hinter ihr gelegene Tür kamen und gingen. Ebendiese Tür öffnete sich just in dem Moment, als Molly vorsichtig zwei kleine Schritte rückwärts machte, um sich etwas anzulehnen.
Gerade hatte ein Schokoladenkuchen in Form eines Schwans die Küche verlassen, umgeben von bengalischen Lichtern, die das Meisterwerk in rötliches Licht tauchten. Gwendolyn konnte kaum erwarten, ihn stolz zu präsentieren, als der Schokoladenschwan einen Moment später einen kurzen Flug unternahm und auf dem Boden landete. Molly war dem Sklaven, der den Kuchen trug, so unvermittelt in den Weg getreten, dass er über sie stolperte und dem Schwan den nötigen Schwung für seinen kleinen Sturzflug gab. Alle starrten die Sklavin im roten Kleid an.
Molly wäre am liebsten gestorben vor Scham. Es war keine Absicht gewesen, sie hatte den eintretenden Sklaven einfach nicht bemerkt.
Niemand wagte es, auch nur zu atmen.
«Verfluchte schwarze Idiotin!», brüllte da auf einmal Gwendolyn und rannte auf Molly zu wie ein wildes Tier.
«Es tut mir leid. Ich wollte nicht …» Aber Molly konnte den Satz nicht beenden, Mrs. Burton hatte sich schon
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