Fesseln des Schicksals (German Edition)
einzigen Fenster der Dachstube, das unerwartet groß war, und versuchte, es aufzuschieben. Aber es war verklemmt, das Holz hatte sich verzogen. Erst beim zweiten Versuch konnte sie es ein wenig öffnen, und ein dünner Luftstrom kam herein, der den muffigen Geruch allmählich vertrieb. Molly hielt ihr Gesicht vor den Spalt und atmete gierig. Danach betrachtete sie das Zimmer, in dem sie für den Rest ihres Lebens wohnen sollte.
Die Schräge und die stickige Hitze ließen einen keinen Augenblick vergessen, dass man sich direkt unter dem Dach befand. Ein Eisenbett, eine Matratze mit zwei dunklen Flecken, deren Beschaffenheit Molly lieber nicht näher untersuchte, eine einzige Decke, die anscheinend noch nie Wasser und Seife gesehen hatte, ein Nachttisch, eine Schüssel, ein Stuhl, ein alter Schaukelstuhl, der ein wenig Farbe nötig hatte, eine Frisierkommode mit einem in der Mitte zerbrochenen Spiegel und über all dem eine Staubschicht, die so dick war, dass man die Straße von New Orleans nach Virginia damit hätte auslegen können.
Mit etwas Arbeit und Geschick könnte es hübsch werden, redete sie sich ein. Natürlich war es nicht wie in New Orleans, aber es würde genügen. Und außerdem war es mit Sicherheit bei weitem luxuriöser als jede andere Sklavenunterkunft auf New Fortune.
Als sie die goldenen Schließen des Koffers öffnete, war sie schon etwas zuversichtlicher. Zum Glück hatte sie eine schöne Decke mit Blumenmuster mitgebracht und ein paar Laken, die Katherine ihr vor Jahren geschenkt hatte, als sie selbst neue Bettwäsche bekam. Außerdem hatte Molly den Rest eines dicken, dunklen Stoffs aufbewahrt, aus dem sie sich eigentlich einen Schal machen wollte, der sich aber perfekt dafür eignete, Vorhänge aus ihm zu nähen. Unter dem Bett fand sie noch einen Teppich, den sie zuerst übersehen hatte. Er war so dreckig, dass man seine wahre Farbe kaum erraten konnte. Aber wenn er erst einmal sauber wäre, könnte er dem Zimmer etwas Gemütlichkeit verleihen.
Danach sah sie sich die Frisierkommode genauer an. Es musste einmal ein schönes Stück gewesen sein, aber jetzt blätterte die Farbe ab. In einer der seitlichen Schubladen des Möbelstücks fand Molly eine Schreibfeder und ein leeres Tintenfass. Der vorherige Bewohner des Zimmers hatte das wohl vergessen. Immer hatte sie sich gewünscht, lesen und schreiben zu lernen, aber wie viele andere Dinge war auch das einer Sklavin nicht gestattet. Rasch schob sie die Schublade wieder zu.
Vorsichtig wischte sie mit der Hand über den zerbrochenen Spiegel und betrachtete ihr Gesicht in der vom Staub befreiten Fläche. Ihre Haut hatte zwar immer eine goldene Tönung, sie war aber nicht dunkler als Katherine, wenn diese vergaß, sich vor der Sonne zu schützen. Die Spitze ihrer geraden Nase war sanft gerundet, die Lippen voll, und die grünen, mandelförmigen Augen leuchteten in der Sonne wie Smaragde. Der leicht olivfarbene Ton ihrer Haut und die exotischen Gesichtszüge waren die einzigen sichtbaren Anzeichen für das afrikanische Erbe ihrer Urgroßmutter. Eigentlich flossen nur noch wenige Tropfen schwarzen Blutes in ihren Adern. Seit ihre Urgroßmutter die Blicke eines Hauptmanns der spanischen Armee auf sich gezogen hatte, waren alle männlichen Nachfahren Weiße gewesen. Ein letztes Mal betrachtete Molly im abendlichen Sonnenlicht ihr Spiegelbild und wünschte sich, dass das Blut ihrer Urgroßmutter dicker gewesen wäre.
· 7 ·
E ine sanfte Brise hatte sie zu einem Ausritt animiert. Sie ließ das Pferd um die Ställe herumlaufen und trabte in Richtung Wald. Der Sommer ist schon vorüber, dachte Katherine, als ihr Blick auf die ockerfarbenen Pinselstriche in den Baumkronen fiel. Vor beinahe vier Monaten war sie nach New Fortune gekommen. Aber die Renovierung ihres neuen Heims und die zahlreichen Feste und Empfänge, die die Nachbarn ihr zu Ehren gegeben hatten, hatten sie so in Atem gehalten, dass die Zeit wie im Flug vergangen war.
Tief in ihren Gedanken versunken, bemerkte sie die Sklavin, die ein Stück vor ihr den Weg entlangging, erst, als sie sich direkt vor ihr befand. Schnell trat das Mädchen zur Seite und wartete, dass ihre Herrin sie überholte. Aber anstatt vorbeizureiten, zügelte Katherine das Pferd und blieb stehen.
Obwohl das Mädchen kaum älter wirkte als sechzehn, konnte man deutlich sehen, dass sie schon bald ein Kind zur Welt bringen würde. Die Nähte ihres geblümten Kleides sahen jetzt schon aus, als würden sie
Weitere Kostenlose Bücher