Fest der Fliegen
Ranuccios Geständnis fiel ihm ein. Nach dem Mord an Leon Schnaubert war Martina die Einzige, die den Text kannte. Wenn sie in den Händen der Bruderschaft war, war ihr Leben in Gefahr. Doch woher sollten die wissen, dass sie Ranuccios Beichte kannte? Oder wollten die Irren der Engelslegion ihn mit Martina unter Druck setzen? Es gab keine Erpresserbotschaft. Nein, die Bildzerstörung zielte eindeutig auf ihn und seine Arbeit als Kommissar. Wer hasste ihn? Einige Nazis im Landkreis waren wüten auf ihn, weil er die mörderische Vergangenheit der Stadt ans Licht gebracht hatte. Das konnte die Zerstörung seiner Bilder erklären. Aber keiner von den rechten Idioten würde den Verdacht ausgerechnet auf Xaver Sinzinger lenken. Und Ungureith? Liesel? Auch das Bild ihres Vaters Willy war unbeschädigt. In ihrem Hass auf ihn hätte sie bestimmt sein Gesicht zerschnitten. Außerdem kannte sie Martina schon von klein auf und war mit ihr und ihrer Mutter Ilse befreundet. Undenkbar, dass sie etwas mit ihrer Entführung zu tun haben sollte. Er leerte das Glas in zwei Zügen. Hatte Martina der mütterlichen Freundin etwas anvertraut, was er nicht wusste? Was war in seiner Abwesenheit geschehen? Klantzammer hatte nicht mit Liesel gesprochen, jedenfalls gab es in der Vermisstenakte keine Aussage von ihr. Man hatte sie übersehen. In zunächst übersehenen Details hatte er in einigen seiner Fälle die Lösung gefunden. Auf einmal schien ihm, unbegründet, dass er auf dem richtigen Weg war. Er wählte Liesels Nummer.
Seit er von Pfarrer Leon Schnaubert die Schlüssel zum Sakristeieingang erhalten hatte, um jederzeit an seiner Studie über den Zungener Marienaltar arbeiten zu können, war Leicester Burton mehrmals nachts in die Hedwigskirche gekommen, um vor der keulenbewehrten Maria zu beten. Nun brachte er ihr das Silberherz zurück, mit dem er versucht hatte, aus Martina Matt eine Engelslegionärin zu machen. Domenico de Cupis saß in der ersten Reihe des Gestühls und beobachtete ihn. Während Burton auf die Leiter stieg, die er zur Vermessung des Marienschreins benutzt hatte, und das silberne Herz wieder an der Statue befestigte, betete de Cupis stumm für ihn. Schon länger nahm er an dem Großabt beunruhigende Veränderungen wahr: Momente der Starre, in denen er abwesend zu sein schien; ein nervöses Zittern der Finger, das so stark sein konnte, dass man beim gemeinsamen Essen sein Besteck im Teller klappern hörte. De la Chambre und Salviati, die in der Villa wohnten, hatten von verzweifelt klingenden, lauten Monologen, Litaneien, Gebeten berichtet, die sie spätnachts vernommen hatten. Keiner ging mehr zu ihm hinauf, um nachzusehen. Manchmal roch er morgens nach Whisky. Jetzt hatte er diese Frau entführt. Warum? Sie hielt nichts von der Heiligen, deren Namen sie trug, sie wollte nicht zur Engelslegion gehören. Doch er schien sich einzubilden, dass er sie dafür gewinnen konnte. Gelang das nicht, wollte er sie sterben lassen. Wofür? Domenico de Cupis versuchte, nicht wie ein Engelslegionär zu denken, sondern als der fünfundfünfzigjährige Roland Hülsen aus Salzburg, der er war, gelernter Buchbinder und ein von seinen Mitbrüdern geschätzter Koch. Wenn er seine Gehorsamspflicht und seine Bewunderung zur Seite schob wie einen Vorhang, sah er dahinter einen Leicester Burton, der nicht mehr Herr ihres gemeinsamen Projekts war: die Rettung der neuheidnischen Welt vor den Mächten des Bösen. Der Großabt schien von der Angst, die er den Menschen nehmen wollte, eingeholt worden zu sein. Kaum einer konnte die Veränderung von Petrus Venerandus beurteilen wie er. Er hatte dessen Weg durch die verschiedenen Orden und Vereinigungen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche fast so lange mit ihm geteilt wie de la Chambre, hatte Jahre mit ihm verbracht, in denen sie das wahre Heil, den wirklichen Glauben, die entscheidende Aufgabe ihres Lebens gesucht hatten. Trog der Eindruck, dass der Großabt nicht mehr bei Sinnen war? Konnte es sein, dass Maria ihm ihre Liebe entzogen und ihn den Mächten des Bösen preisgegeben hatte? Verwirrte Luzifer schon seinen Geist und seine Seele? Er kniete in der Bank und betete mit tiefer Hingabe zur Muttergottes. Still bat er darum, dass der Großabt den klaren Blick für den Auftrag der Legio Angelorum wiedererlangte; dass er das Werk, das sie alle begonnen hatten, bis zum Sieg des Glaubens über den Unglauben fortführen konnte. Plötzlich spürte er eine Hand auf seinem Haar. Er hob den
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