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Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
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als habe er genug gesagt und von nun an jede Menge Zeit, auf eine Antwort zu warten. Alexander Swoboda wusste genau, was Commissaire Lecouteux, der seinetwegen aus Paris gekommen war und wohl nicht allzu widerwillig den beruflich bedingten Aufenthalt am Atlantik auf mehrere Tage ausdehnte, mit dieser Feststellung meinte. Aber er schwieg und zwang sein Gegenüber zu präzisieren, worauf er hinauswollte. Lecouteux’ Blick kehrte zu ihm zurück. »Sehen Sie, Herr Kollege Swoboda, Sie sind nicht mehr im Dienst. Sie sind jetzt nur noch Künstler. Aber man bleibt doch Kriminaler, wenn man es sein Leben lang war. Sie fahren also hierher an unsere Küste, um die Felsen zu sehen, die von den Impressionisten gemalt wurden? Gut. Und dann entdecken Sie zufällig das kleine Valmont auf der Landkarte und es drängt Sie, dort eine unscheinbare, alte Dame zu besuchen, mit der Sie nichts verbindet außer einem zufälligen Treffen in Edinburgh, in dem Museum der Camera Obscura, wo Sie zufällig einen Mord auf offener Straße beobachteten? Und zufällig ist diese Dame in Valmont nun tot, als Sie die Wohnung betreten. Viele Zufälle, finden Sie nicht?« »Ja. Zu viele.« Swoboda musste grinsen. Georges Lecouteux stand auf, ging zur Bar und schlug mit der Hand auf die Klingel. »Trinken Sie einen Pernod mit mir? Das Einzige, was gegen dieses Wetter hilft.«
    Als die Gläser mit der milchigen Mischung vor ihnen standen, entschloss sich Swoboda, Auskunft zu geben. Sie prosteten einander zu, Lecouteux richtete sich auf, sagte leise »Nun?«, rutschte auf die Polsterkante seines Sessels, legte die Hände rechts und links des Pernod-Glases auf die Tischplatte, reckte den Kopf vor und wartete. »Ich bin zu ihr gefahren, um zu sehen, wie sie aussieht.« »Madame O’Hearn?« »Ja. Ich wollte mein Gedächtnis überprüfen.« Der Commissaire legte den Kopf schief. »Haben Sie Anlass dazu?« »Leider ja. Ich vergesse die Leute, mit denen ich zu tun hatte. Ich – verliere sie.« Lecouteux winkte ab. »Ach, wenn Sie wüssten, wie viele Namen ich vergesse, sogar von Freunden sind manchmal die Namen weg! Gerade eben ist mir Ihr Chef nicht eingefallen!« »Nein, nein!« Swoboda wurde unwillkürlich laut. »Es geht nicht um die Namen – die Gesichter sind weg, mit den Namen, die Menschen sind weg, verstehen Sie?« Lecouteux sah ihn schweigend an. Sein Mund stand halb offen. Er dachte nach oder schämte sich vielleicht seiner Bemerkung über die eigene Vergesslichkeit, obwohl sie tröstlich gemeint gewesen war. Dann atmete er ein und sagte leise: »Sie haben Angst.« »Ja«, sagte Swoboda noch leiser. »Ich habe Angst.« Sein Kollege vom Pariser Quai des Orfèvre versuchte, sich vorzustellen, wie diese Angst den Deutschen beherrschte. Sein Gegenüber wirkte nicht furchtsam. Ein kräftig gebauter Mann, dieser Swoboda, hellbrauner Cordanzug, dichtes graues Haar, im Gesicht hätte Lecouteux der Augenschatten und der dunklen Tönung wegen eher einen Italiener oder Südfranzosen vermutet. Sah eigentlich nicht nach Mitte sechzig aus. Vielleicht ließ sich aus ihm mehr herausholen als dieses erstaunlich intime Bekenntnis, seine Erinnerung zu verlieren. Der Commissaire trank seinen Pernod aus, warf fünfzehn Euro auf den Tisch, stand auf und nahm seinen hellen Trenchcoat vom Kleiderständer. »Das ist, glaube ich, meiner«, sagte Swoboda. Mit einem Mal fiel durch die Fenster Licht in die Bar. »Oh, pardon. Lassen Sie uns ein bisschen an den Strand gehen, der Regen hat aufgehört, jetzt kommt die Sonne, man muss sie hier sofort nutzen, sonst ist sie weg, bis man draußen ist. Es wird uns guttun. Und ich möchte rauchen.«
    Der Himmel blendete blau. Die graue Front der Regenwolken stand über dem Hinterland, als sammelte sie sich dort, um die Küste zurückzuerobern. Lecouteux nahm Swoboda am Arm, zog ihn über die Avenue Gambetta, ohne auf den Verkehr zu achten, zur Kirche Saint-Étienne hinüber und weiter hinunter zum Hafen. Auf dem Quai Bérigny kamen sie an dem Fischgeschäft La Marée vorbei und Swoboda berichtete von seiner Begegnung mit der Dornenhaut des Rochens. Lecouteux musste lachen. »Ja, der Rochen wehrt sich lange gegen seinen Tod.« Ein merkwürdiger Satz, dachte Swoboda. Das Bild der toten Madame O’Hearn stieg vor seinem inneren Auge auf, deren Haut sich zu bewegen und zu singen schien. Im Port de Plaisance lagen die Segel- und Motorjachten dicht an dicht, die meisten waren aus England über den Kanal gekommen. Die Schoten schlugen gegen die

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