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Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
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verteilt, dem Kellner gewunken und ihm mit einer Rauchergeste zu verstehen gegeben, dass er einen Aschenbecher wünsche. Der Kellner sah sich um: Keine anderen Gäste, ein Commissaire aus Paris, Freund des Küchenchefs … Also gehorchte er, und als Lecouteux die ersten zwei Züge getan hatte, sagte er überraschend scharf: »Ich glaube den Unterlagen nicht. Ich habe das Gefühl, betrogen zu werden. Wie wäre es, wenn Sie mir endlich erzählen würden, was in Edinburgh tatsächlich passiert ist? Wir müssen einander vertrauen, Monsieur le Collègue!« »Ich vertraue Ihnen, auch ohne es zu müssen.« »Sie verstehen mich nicht. Wenn Unterlagen gut erarbeitet sind, habe ich beim Lesen das Gefühl, dass ich dabei gewesen bin. Die schottischen Unterlagen sperren mich aus. Irgendwie fehlt das Wesentliche. Und jetzt hören Sie gut zu, bitte. Ich bin nicht von der – wie sagen Sie dazu? – Mordkommission.« Der letzte Satz machte Swoboda, der nach zwölf Austern und drei Gläsern Wein einer zunehmenden Schwere in sich nachgeben wollte, schlagartig wach. »Nicht? Aber die Kollegen in Valmont haben Sie mir so vorgestellt.« »Ja. Das sollten sie auch. Es stimmt auch irgendwie. Wenn wir einander vertrauen wollen, dann fange ich jetzt damit an: Ich gehöre zur Abteilung für Organisiertes Verbrechen. Bei Ihnen wäre das, glaube ich, das LKA oder das BKA.« Der deutsche Hauptkommissar aus der Zungener Provinz wusste sehr gut, was das bedeutete. Er hing, hoffentlich nur als Zeuge, in einem Ermittlungsnetz, dessen Ausmaße seine einstigen Kompetenzen weit überschritt. Es konnte Europa umfassen. Oder die Welt. Und Polizisten, die für die entsprechenden Instrumente der Recherche und Verfolgung autorisiert waren, fühlten sich Beamten wie ihm überlegen. In einer solchen Lage war es am besten zu schweigen. Lecouteux orderte zwei Calvados, zwei Kaffee und die Rechnung. Swoboda bedankte sich mit einem Kopfnicken. Dass der französische Staat ihm einmal ein Mittagessen bezahlen würde, hätte er noch vor einer Stunde für unmöglich gehalten. »Danke. Sie sind bei einer höhergestellten Behörde. Also, was soll ich tun?« Sein Gegenüber warf die Serviette auf den Tisch. »Es geht mir nicht um ein Sternchen oder Streifchen mehr auf der Uniform, die wir beide sowieso nicht tragen. Können wir dieses deutsche Denken beiseitelassen?« »Denkt man hier anders?« »Nein. Aber im Register unserer Vorurteile heißt diese Art Blick von unten nach oben deutsch .« »Sie werden Ihre Gründe haben«, sagte Swoboda. »Ich möchte nur wissen, was der Fall O’Hearn mit dem in Edinburgh und was beide mit organisiertem Verbrechen zu tun haben sollen.« »Haben! Nicht haben sollen! Haben! Ich pflege keine Spekulationen in die Welt zu setzen.« Lecouteux hatte seine Lautstärke gesteigert, was auf Ärger deutete. Swoboda lehnte sich weit im Stuhl zurück, wie er es stets getan hatte, wenn Delinquenten im Verhör aggressiv geworden waren. Man schuf Abstand zu ihnen, und schon hatten sie die Chance, sich zu beruhigen. Natürlich kannte auch Lecouteux diese professionelle Reaktion und mäßigte sich. Er sah sich im Restaurant um. Der Kellner hatte sich verzogen. »Sehen Sie, Swoboda, ich weiß zwar nicht, warum, wir kennen uns erst zwei Tage, und verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen damit zu nahe trete. Aber ich mag Sie. Nicht, dass Sie mir dafür gute Gründe gegeben hätten. Aber ich hatte von Anfang an ein großes Vertrauen zu Ihnen.« Er hat mit einem Mal das Gesicht eines sehr jungen Mannes, dachte Swoboda. Und er spürte, dass dieser junge Mann das gleiche Ziel verfolgte wie er selbst in den zurückliegenden vierzig Jahren: denen, die getötet worden waren, wenigstens nachträglich die Genugtuung zu verschaffen, dass ihre Mörder bestraft wurden. Sein Beruf hatte ihm dafür reichlich Gelegenheit gegeben. Ihm war bewusst, dass diese Genugtuung für die, die unter der Erde lagen, wertlos war. Doch die Gesellschaft musste vor Augen geführt bekommen, dass Verbrechen sich nicht nur nicht lohnte, sondern mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verfolgt und geahndet wurde. Es ging nicht darum, die Menschen zu bessern, sondern darum, ihnen die Folgen schlechten Handelns vor Augen zu führen. Es ging um Abschreckung, um nichts sonst. Sie funktionierte, solange sie funktionierte. Er hatte keine Illusionen: Viele Menschen trugen, ohne es zu ahnen, das Talent zum Mörder, ja zum Serienmörder in sich, nicht wenige sogar zum Massenmörder – dazu brauchte es nur

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