Fest der Fliegen
Leute an der Macht, die solche Abschlachterei ermunterten, befahlen und belohnten oder es für geboten erklärten, von nun an alle Nachbarn in Häusern mit ungeraden Nummern zu erschlagen. Oder alle mit Haarausfall. Oder alle, die ein A im Vornamen hatten. Wenn das Unrecht mit rechten Dingen zuging, wer wollte da für sich garantieren … Dennoch. Und deswegen. Swoboda atmete tief ein und langsam aus. Dennoch. Und deswegen. In diesem polizeilichen »Trotz alledem« war er sich mit seinem französischen Kollegen von der Abteilung für Organisiertes Verbrechen in der Police Judiciaire bestimmt einig. Er stand auf. »Nun gut. Gut, ja. Ich erzähle, was ich weiß. Was ich noch weiß. Aber ich muss ein bisschen laufen.« Der Commissaire erhob sich schweigend, warf sich den Mantel über die Schulter, ging voraus und winkte im Vorbeigehen seinem Freund in der Küche zu.
Die Sonne hatte sich durchgesetzt und den blassblauen Himmel bis zum Meereshorizont mit Lichtdunst überzogen. Der Wind war verebbt. Die Luft roch nach Tang, Algen und toten Schalentieren. Die beiden Kommissare breiteten ihre Mäntel über die grauen Kiesel am Strand, die warm geworden waren, und setzten sich. Sie blickten auf den Atlantik hinaus, der sich beruhigt hatte und nur noch schmale Wogenlinien zum Land schob. Das Wasser war im Sturm milchig und grünbraun geworden. Hauptkommissar außer Dienst Alexander Swoboda analysierte die Farbe stumm als Mischung aus Dunklem Ocker, Permanentgrün und sehr wenig Echtgelb und begann zögerlich, von seinem Urlaub in Edinburgh zu erzählen, dem einzigen Urlaub seit Jahrzehnten – den er erst nach seiner Entlassung aus dem Dienst angetreten hatte. Jene Ferien im schottischen Juni mit dem unerwartet beruflichen Ende: mit einem Mörder, den er unmittelbar nach der Tat am liebsten in die Arme genommen hätte.
Martina hatte den Last-Minute-Trip im Internet gebucht. Ohne ihn zu fragen. Hotel mit Sonderpreis, ebenso der Flug, auch wenn man in London zwischenlanden und samt Gepäck vom Flughafen Gatwick nach Heathrow wechseln musste. »Warum Edinburgh? Gab es sonst nichts Günstiges? Türkei oder Italien?« »Wenn du lieber nach Rom willst, okay.« »Wieso soll ich lieber nach Rom wollen?«, hatte er zurückgefragt. Martina war ruhig geblieben. »Es könnte ja sein. Aber es ist viel teurer.« »Du hast Edinburgh schon gebucht, da wäre es doch unsinnig, wenn ich jetzt nach Rom wollte, ich versteh’ dich nicht.« »Ja. Natürlich. Ich dachte nur, du warst noch nie in Edinburgh.« Er war nicht begeistert von diesem Geschenk, das Martina ihm überraschend bereitet hatte. Ihn störte die Zufälligkeit, die sich mit dem Ziel verband, und Martina spürte, dass er keinerlei Vorfreude empfinden konnte. Aber auf der Taxifahrt vom Flughafen Edinburgh in die Stadt hatte sich seine Stimmung geändert. Er sah aus dem Wagenfenster: Das nördliche Küstenlicht war von so durchdringender Klarheit, dass es die Konturen der Dächer und der Landschaft in eine unwirkliche Überschärfe hob. Als ob Swobodas Augen sich plötzlich verjüngt hätten. Er nahm Martinas Hand. »Richtig. Es war richtig, hierherzukommen. Danke.« Das Hotel in der Princess Street hatte bessere Tage gesehen, und die vor langer Zeit. Dass die Royal Princess, nach der sich die Unterkunft nannte, hier keinen Fuß hineingesetzt hatte, war offensichtlich. Die königlich purpurnen Plüschteppiche fransten an den Kanten der Treppenstufen aus, in den Gängen waren Risse im Teppichboden mit Gewebe-band überklebt, dessen Rot von dem der Auslegware derart unverträglich abstach, dass Swoboda wegsehen musste. Im Zimmer ließen sich die Fenster nicht schließen, dafür war es überheizt. In der ersten Nacht, als Martina sich im Bett von Swoboda an die Wand gequetscht fühlte, stellten sie fest, dass der Zimmerboden schief war und das Bett entsprechend eine schräge Ebene. »Ich dachte, es sei der Whisky«, sagte Martina. »Aber es ist der englische Humor beim Häuserbauen, ich kann mich hier wirklich kaum gerade halten.« »Vermutlich der sprichwörtliche schottische Geiz, man spart sich Lot und Wasserwaage, aber man will nicht, dass wir uns verletzen«, beruhigte er. In der Dusche klebte ein Schild an der Wand: »Beware! Hot water coming from the tap!« An jeder Treppenstufe stand »Please mind step«, in den engen Durchgängen des verwinkelten Hauses las man »Mind your head« , und im Lift warnte eine Damenstimme »Door’s opening. Door’s closing.« So viel Fürsorge
Weitere Kostenlose Bücher