Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
Vom Netzwerk:
Masten, der helle Klang des Aluminiums mischte sich mit den Schreien der Albatrosse und den Freudenrufen der Jungen, die drüben auf den Estacades und weiter vorne am hölzernen Quai des Pilotes standen, ihre Angeln übers Geländer hielten und über jede Makrele am Haken jubelten. Swoboda tastete die Bilder mit seinen Augen ab, als müsse er sie seinem Gehirn eingravieren. An der Mole hatten die Pavillons, in denen Eis und Crêpes verkauft wurden, geöffnet. Touristenkinder warteten auf die Leckereien. Er fixierte ihre Gesichter. Fette, quengelnde Kinder mit fetten, mürrischen Eltern. Quirlige, vom Wind geweckte Kinder, deren Eltern müde und nachdenklich das Meer betrachteten. Und Kinder, die allein zu sein schienen, auf der Molenmauer hockten und hinaussahen in die Zukunft, die hinter dem Horizont lag. »Crêpes?«, fragte Lecouteux. »Nein. Die Steinfigur da oben. Seit wann gibt es die?« »Keine Ahnung, ich glaube, schon immer, aber ich hole mir jetzt Crêpes mit Grand Marnier.« Die weiße Frau aus Stein auf der Mole von Fécamp erinnerte Swoboda – aber er wusste nicht, woran oder an wen. Er stieg die Stufen zu ihr hinauf und umrundete den Sockel, auf dem sie stand. Eine Geliebte? Eine Ehefrau? Eine Mutter? Kein bildhauerisches Ereignis. Der Kalkstein vom Salzwind gerundet. Dennoch sah er in ihrem Steinkleid den Wind, in ihrer Haltung die verlorene Hoffnung, in ihrem Blick aufs Meer aber noch immer Erwartung. Von hier aus waren die Fischer bis Neufundland gefahren, so viel wusste
    er. Die Männer auf See, die Frauen an Land. War nur an
Land Angst? Wie viele Frauen hatten hier gestanden, morgens, bevor die Kinder aufwachten, abends, wenn die Kinder schliefen? Und wie viele vergeblich, wie diese eine aus
Stein, die so lebendig zu sein schien.
Als er sich von ihr abwandte, fiel ihm jene Frau in Zungen ein, deren Mann im Winter vor zwei Jahren ins Eis der
Nelda eingebrochen war. Sie hatten ihn nicht gefunden,
auch nach der Schmelze nicht. Im Sommer hatte Swoboda
die Nachricht überbringen müssen, dass die Nachforschungen eingestellt worden waren. Die Frau ging noch immer
jeden Tag an die Südspitze der Halbinsel, wo die Mahr und
die Mühr sich zur Nelda vereinten, und starrte auf die Wirbel und Strudel vor der Kaimauer des Mäuseturms.
»Nichts ist so dauerhaft wie die Ungewissheit«. Lecouteux
war neben ihn getreten und kaute noch an seinen Crêpes
Grand Marnier.
Das war der zweite merkwürdige Satz, den Swoboda von
seinem Kollegen aus Paris zu hören bekam.
    Er roch den Tabak, den herrlichen Rauch einer selbst
gedrehten, filterlosen, frisch angerauchten Zigarette. Den
Duft würde er nie vergessen. Vor vierzehn Jahren hatte er
mit dem schönen Unsinn aufgehört.
Lecouteux hatte wie viele Raucher das Bedürfnis, andere
zu verleiten: »Möchten Sie eine? Nein? Ah, Sie sind es los.
Wäre ich auch gern. Aber irgendwie schaffe ich es nicht.«
»Warten Sie ab«, sagte Swoboda, »irgendwann ist der Körper klug genug, nicht mehr jede Dummheit mitzumachen.
Ich meine: nicht mehr jede dumme Dummheit.«
    Der Commissaire rauchte mit geradezu unverschämt genüsslichen Gesten und die Eleganz, mit der er die Zigarette zum Mund und mit lässigem Schwung wieder von sich weg führte, machte Swoboda den Altersunterschied zwischen ihnen beiden deutlich. Dieser französische Kollege hatte noch keine Ahnung von der Erpressung durch die Jahre. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen noch helfen soll in diesem Fall«, sagte er. »Sie haben alle Unterlagen, Sie haben die Spuren vom Tatort, Sie kennen die Akten von Edinburgh, wobei ich nicht weiß, oder wir beide nicht wissen, ob die Fälle überhaupt zusammenhängen.« »Nein«, sagte Lecouteux, hakte Swoboda unter, um ihn zum Spaziergang über die Mole zu drängen. »Wir gehen ans andere Ende der Bucht zum Kasino!«, sagte er, warf die Zigarette weg und schloss seine Hand fester um Swobodas Unterarm. »Scheußlicher Bau, ein Schandfleck für die Bucht, das Restaurant hat jetzt mittags zu, aber ich kenne den Koch, er wird uns zwei Dutzend wundervolle Belons aus der Bretagne zum Preis von einem Dutzend servieren, dazu einen etwas ruppigen, aber für den Mittag genau richtigen weißen Bordeaux, Sie mögen doch Austern?« Swoboda nickte und senkte den Kopf in den Wind.
    Lecouteux hatte sich die Finger ausführlich in der Schale mit Zitronenwasser gewaschen, an der weißen Stoffserviette getrocknet, er hatte den Rest aus der Flasche gerecht ins Glas des Gastes und in sein eigenes

Weitere Kostenlose Bücher