Fest der Fliegen
und Waldstücke betrachtet, aber auch hier war sie im Dienst. Der Dienst war ständig in ihr wach. Dienst war die Haltung, in der sie lebte. Manchmal litt sie darunter, dass sie ihre professionelle Aufmerksamkeit nicht ablegen konnte. Sie tröstete sich damit, dass diese Unfähigkeit vermutlich die Grundlage ihres Erfolgs und ihrer Karriere war. Ihrem dienstlichen Blick war nicht entgangen, wie der Ire Leicester Burton, von dem sie gehört hatte, dass er ein Kunstgeschichtler und Mitglied im Vorstand einer Stiftung war, vor zwei Porträts seinen Weg durch die Ausstellung unterbrochen hatte, und zwar so, als habe eine große Faust ihn vor den Rosenkranzmördern gestoppt. Aus sicherem Abstand hatte sie ihn von da an nicht mehr aus den Augen gelassen. Der Mann reagierte nicht als Kunstbetrachter auf die Gemälde, auch wenn er so tat, als ob ihn die Machart interessierte. Offenbar zügelte er seine Reaktion und schien für einen Augenblick ratlos zu sein. Er wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Irgendetwas verband ihn mit den Gesichtern. Sie nahm sich vor, ihn ins Gespräch zu ziehen, als ihr Telefon in der Handtasche brummte und vibrierte. Sie lehnte sich an eine Wand in der Nähe des Ausgangs und grub in den diversen Abteilungen der Tasche herum. Als sie das Telefon fand, war es zu spät. An der Nummer des entgangenen Anrufs sah sie: Es war das BKA in Berlin, ihre Abteilung. Bereitschaft. Sie rief sofort zurück.
Rike Weißbinder freute sich auf die Diskussion in der Akademie. Sie kam gern nach München, hatte einen früheren Zug genommen, um herumzuschlendern zwischen Marienplatz, Fußgängerzone, Odeonsplatz, sie hatte in einer Buchhandlung in der Residenzstraße zufrieden den Stapel ihres Mirjam-Buches auf dem Empfehlungstisch betrachtet und war schließlich zum Max-Joseph-Platz gelaufen, wo sie um neunzehn Uhr unter dem Dach des Königsbaus, im Saal der Bayerischen Akademie der Künste, an einer Diskussion um ihr Marienbuch teilnehmen sollte. Danach würde sie, wie gewohnt, signieren. Erfahrungsgemäß kaufte jeder zweite Zuhörer ein Exemplar. Wie überall würde das Publikum auch hier überwiegend aus Frauen bestehen. Sie hatte noch eine Viertelstunde Zeit bis zum Treffen mit den Veranstaltern. Im rechten Winkel schlossen das Staatstheater und die Nationaloper an den langen Königsbau der Residenz an. Über die Freitreppe der Oper stiegen Besucher zum erleuchteten Eingang zwischen den Säulen hinauf. Parsifal begann früh. Die Autorin setzte sich links neben dem Eingangstor der Residenz auf den Sockel, der sich etwa einen Meter über dem Boden an der Fassade aus Dolomit entlangzog. Der Tag war sonnig und mild gewesen. Die Mauern hatten die Wärme gespeichert und bis in die beginnende Abenddämmerung gehalten. Rike Weißbinder lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Entschuldigen Sie bitte. Sind Sie nicht Frau Weißbinder?« Sie musste ein paar Sekunden geschlafen haben. Die Stimme des Mannes war angenehm. »Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie geweckt!« Sie sah, dass er ihr Buch in beiden Händen hielt. »Keine Sorge«, sagte sie und sah dem freundlichen Herrn ins Gesicht, der anscheinend einer der wenigen männlichen Fans war. »Kommen Sie zur Diskussion?« »Ja. Natürlich. Aber nachher sind Sie bestimmt umlagert.
Würden Sie mir jetzt was reinschreiben? Einfach nur den Namen. Und das Datum?« Sie nahm das Buch, schlug es auf und erkannte sofort, dass es gründlich gelesen worden war. Es ließ sich weich öffnen, der Rücken war schief. Das machte den Mann noch sympathischer. »Soll ich es jemandem widmen? Für …?« »Nein, danke, einfach nur den Namen. Und das Datum. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Sie lächelte. Manche Leser verhielten sich wie Bittsteller. Dabei lebte sie von ihnen. Er reichte ihr einen Kugelschreiber. Ein billiges Ding, dachte sie, als sie ansetzte zu ihrer Unterschrift. Im selben Augenblick spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Hals, auf der rechten Seite, wo ihr sympathischer Leser stand. Sie ließ den Kugelschreiber fallen und zuckte mit der Hand an die Stelle des Schmerzes, sah zugleich, dass der Mann seine Hand mit einer Spritze von dort zurückzog. Sein Gesicht hatte sich verändert. Sie konnte den Hass darin nicht begreifen. Der Schmerz stieß wie ein Speer in ihr Herz, sie ließ das Buch los, sah noch, wie ihr Fan es vom Boden aufhob. Sie wollte schreien. Sie hatte keine Stimme. Ein rasendes Feuer breitete sich in ihrem Körper aus. Sie nahm nicht
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