Fest der Herzen: Geständnis unterm Weihnachtsbaum / Schicksalstage - Liebesnächte
frisch angetraute Ehefrau Meg würden gleich nach Thanksgiving den Weihnachtsbaum aufstellen und sie notfalls kidnappen, sollte sie nicht zur Familienfeier auf der Stone Creek Ranch erscheinen – allein schon aus dem Grund, dass das Baby der beiden, Mac, vor einem halben Jahr das Licht der Welt erblickt hatte und es das erste Weihnachtsfest als junge Familie sein sollte. Erschwerend kam hinzu, dass Megs jüngere Schwester Carly im Rahmen eines Förderprogramms für hochbegabte Schüler sechs Monate in Italien verbrachte und Brad und Meg sie sehr vermissten. Ashley würde in ihrem Bed & Breakfast ihre alljährlichen Tage der offenen Tür veranstalten, während Melissa wahrscheinlich entscheiden würde, dass sie gegen Mistelzweige und Stechpalmen allergisch war, und dann überzeugende Symptome zur Schau stellen würde.
Und Olivia würde letztlich ja doch hingehen. Zu Brad undMeg, weil sie die beiden liebte und von Mac nicht genug bekam. Zu Ashley, weil sie ihre Schwester liebte und weil sie fast immer darüber hinwegsehen konnte, dass sie sich wie eine zu Lebzeiten wiedergeborene Martha Stewart aufführte. Und zu Melissa dann auch noch, um ihr Nasenspray gegen die Allergie und einen Topf Hühnersuppe zu bringen – natürlich aus der Konservendose, denn was richtiges Kochen anging, da kannte sie ihre Grenzen.
„Da ist Blitzen“ , meldete sich Ginger zu Wort und ließ ein fröhliches Winseln folgen.
Tatsächlich war da im gelblichen Lichtkegel der etwas altersschwachen Scheinwerfer ein Rentier zu erkennen, das mitten im Schneegestöber am Straßenrand stand.
Olivia stoppte den Wagen, legte den Leerlauf ein und zog die Handbremse an. „Du bleibst hier“, meinte sie zu der Hündin und öffnete die Wagentür.
„Als ob ich bei dem Wetter aussteigen würde“ , meinte Ginger verächtlich schnaubend.
Vorsichtig näherte sich Olivia dem Rentier, das wie erstarrt wirkte – ein kleines, schmächtiges Tier mit riesigen dunklen Augen, die im Scheinwerferlicht funkelten.
„Verirrt“ , ließ das Rentier sie nur wissen, da es offenbar nicht über einen ähnlich umfangreichen Wortschatz verfügte wie Ginger. Wenn sie für die Hündin jemals ein liebevolles Zuhause finden sollte, dann würden ihr die langen Unterhaltungen mit ihr fehlen, auch wenn sie beide politisch sehr gegensätzliche Standpunkte vertraten.
Das Rentier hatte ein Geweih, also war es ein Männchen.
„Hey, Kleiner, woher kommst du denn?“
„Verirrt“ , wiederholte das Rentier. Entweder war es benommen oder nicht besonders intelligent. So wie die Menschen war auch jedes Tier einzigartig, und manche von ihnen hatten die Intelligenz eines Albert Einstein, während andere etwas einfältiger waren. „Bist du verletzt?“, vergewisserte sie sich, auch wenn sie nichtden Eindruck hatte. Dieser erste Eindruck täuschte sie so gut wie nie, dennoch gab es immer ein gewisses Restrisiko.
Keine Antwort.
Langsam ging sie weiter, bis sie nahe genug war, um das Rentier behutsam abtasten zu können. Nirgendwo klebte Blut, es waren keine offensichtlichen Knochenbrüche zu fühlen. Das schloss natürlich nicht aus, dass das Tier Verstauchungen oder Haarrisse in den Knochen erlitten hatte. Es gab keine erkennbaren Markierungen, auch keine Marke im Ohr oder etwas Ähnliches.
Das Rentier ließ sich ohne Gegenwehr untersuchen, was bedeuten konnte, dass es zahm war. Sicher war das jedoch nicht, denn so gut wie jedes Tier – ob wild oder gezähmt – hatte sich bislang von ihr anfassen lassen. Einmal war es ihr sogar gelungen, mit der Hilfe von Brad und Jesse McKettrick einen verletzten Hengst zu behandeln, der zuvor noch nie Bekanntschaft mit Hufeisen, Zaumzeug oder einem Reiter gemacht hatte.
„Es wird alles wieder gut“, sagte sie zu dem kleinen Rentier, das tatsächlich so aussah, als solle es vor den Schlitten des Weihnachtsmanns gespannt werden. Sein Fell hatte einen silbrigen Glanz, das Geweih war fein geschnitten, und das zierliche Tier war kaum größer als Ginger.
Sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf ihren Truck. „Kannst du mir zu meinem Haus hinterherlaufen? Oder soll ich dich auf die Ladefläche setzen?“, fragte sie.
Das Rentier nahm daraufhin den Kopf runter. Aha, es war also schüchtern. Und erschöpft.
„Aber du hast schon einen langen Weg hinter dir, nicht wahr?“, redete Olivia weiter, während sie zum Wagen lief, die Heckklappe öffnete und die stabile Rampe herauszog, die für Ginger und andere vierbeinige Passagiere gedacht
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