Feuer brennt nicht
vor sich hin, ihre Augen sind gerötet, und Webster legt sich zu ihr, ohne dass sie ihn wie sonst von der Decke schöbe. Sie krault seine Kehle, reibt ihr Gesicht am Fell, zupft ihm eine Nessel vom Bein, und als sie aufsieht, sind da schon wieder Tränen. Weil er noch nicht gewaschen ist und vermutlich riecht nach dem, was in dem Hotelzimmer stattgefunden hat, bleibt Wolf in der Tür stehen, runzelt die Brauen. »Dieser ganze wissenschaftliche Scheiß«, sagt sie mit einem Blick auf die Bücher. »Nur totes Zeug steht darin. Und was ich schreibe, ist auch nicht besser. Ich glaube, ich hab überhaupt kein Talent, zu gar nichts. Mein einziges Talent besteht darin, dich zu lieben.«
In einem kurz nach ihrem Einzug in das Viertel errichteten Klinkerbau auf der anderen Straßenseite lebt eines der wenigen Paare ohne Kinder in der Nachbarschaft: ein großer Glatzkopf mit Schnauzbart und seine gedrungene Frau, die ihr Blondhaar zu einem dicken, fast hüftlangen Zopf geflochten hat. Die Wohnung liegt auf ihrer Höhe, und die beiden, die Anfang vierzig sein mögen, nicken ihnen nicht nur freundlich zu, sobald sie auf den Nordbalkon treten; die Frau, kaum sieht sie einen Schatten hinter der Scheibe, winkt sogar, wobei sie den Arm hochreißt und die Hand heftig schlackern lässt; dabei blitzt ihre Brille im Sonnenlicht, und als Wolf einmal bemerkt, das müssten Westler sein, lacht Alina und sagt: »Bingo! Aus Britz. Sie hat mich im Supermarkt angesprochen.«
Die Fenster in dem verwinkelten, mit dunkelgrünem »Architektentrost« bewachsenen Haus liegen so, dass sie dem Alltag dieser Menschen kaum entgehen können, wenn sie nicht auf den Balkon verzichten wollen. Es ist ein normales Leben, möglicherweise das von Lehrern oder Krankenkassen-Angestellten, mit Frühstück bei geteilter Zeitung um sieben und Abendessen um halb acht; danach flackert Fernseherlicht im Wohnzimmer oder ein Computer wird eingeschaltet, und an Wochenenden oder freien Tagen deckt man pünktlich um eins den Mittagstisch, zündet eine Kerze an zum Kaffee, entkorkt etwas später eine Flasche Wein und geht nicht schon um zweiundzwanzig Uhr dreißig, sondern erst um dreiundzwanzig Uhr ins Bett.
Man möchte das nicht sehen, natürlich nicht, aber außer dem Rouleau im Schlafzimmer gibt es keineVorhänge dort drüben, und so bleibt ihnen nicht erspart, was Wolf nur als ritualisierte Trostlosigkeit empfinden kann – ein Eindruck, der noch verstärkt wird durch die Beobachtung, dass die beiden relativ stumm nebeneinanderher zu leben scheinen, niemals lachen oder lächeln, sich nie umarmen oder auch nur berühren, von einem Kuss ganz zu schweigen, und meistens form- und farblose Allerweltskleidung tragen. Graulinge nennt er sie insgeheim, und auch wenn er sich denken kann, dass er ihnen Unrecht tut und es im Grunde friedvolle, arbeitsame und um die Abbezahlung ihrer Eigentumswohnung besorgte Mitmenschen sind, die gelegentlich sogar ein Buch lesen, ist eine gewisse Geringschätzung nicht zu unterdrücken, führen sie ihm doch vor, was möglich wäre zwischen Alina und ihm: dass sie sich eines Tages nicht mehr wahrnehmen vor lauter Gegenwart, in der Gleichförmigkeit kaum noch Erinnerungen schaffen und nichts mehr wissen von dem Zauber, der zwischen Menschen denkbar ist, weil sie aus dem Leben alles Unwägbare und Unvermutete getilgt und eine Lebensform daraus gemacht haben.
Gleichzeitig findet er sich haarsträubend in seiner Abgrenzung, die nichts über diese Leute, aber peinlich viel über ihn sagt. Warum kann er sie nicht einfach sein lassen? Warum macht er aus allem und jedem eine Hintergrund-Schraffur? Hat er in seinem Alter immer noch nicht Profil genug? Und schon nimmt er sich vor, sie einmal zum Tee einzuladen, zu einem Glas Bier, da liegt ein mit »Herzliche Grüße von Helga und Günther« unterschriebener Flugzettel im Kasten, die verkleinerte Kopie des grellgelben Plakats, das tagsdarauf in den gegenüberliegenden Fenstern hängt. Man plant nämlich, einen privaten Kindergarten auf dem Nachbargrundstück einzurichten, wogegen Herr und Frau Grauling sowohl baurechtlich als auch im Hinblick auf die zu erwartende Lärmbelästigung beim Bezirksamt protestiert haben – und das offenbar im Glauben, alle Anwohner seien auf ihrer Seite. Wolf muss grinsen. »Also doch Knalltüten«, sagt er erleichtert, während Alina den Kopf schüttelt, und als er kurz darauf den Balkon betritt, um den Hund zu bürsten, ignoriert er ihn einfach, den Gruß der Frau, dieses
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