Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
Vom Netzwerk:
verwechselt zu werden, und diese scheinbare Demut – die aber bloß belegt, wie selbstredend er seine schiefe, nur zwischen den Weinräuschen halbwegs wache Empfindsamkeit auch bei ihm voraussetzt – lässt Wolf den Brief zerreißen. Er will den Mann nicht mehr sehen.
    Dennoch denkt er von da ab wieder öfter an ihn. Jetzt heißt es gewachsen sein der Versuchung, dem Älteren heimzuzahlen, was man für Hochmut und Herablassung halten könnte, für den Dünkel des Arrivierten, der sich in Gönnerhaftigkeit ausdrückte und gelegentlichen Schecks. Denn er verdankt ihm einiges, trotz aller Vorbehalte: den Mut zur eigenen Sprache etwa und dass er einen Satz zu bauen vermag, der nicht schon beim ersten Stirnrunzeln zerfällt; dass er unterscheiden kann zwischen Vers und Gebärde und weiß, wie man etwas verschweigen muss, damit es leuchtet. Er hat sich aufgerichtet an seiner Größe, ist zu Kräften gekommen im Schatten seiner Kraft, und eine Zeitlang fühlte er sich durchaus in seiner Schuld, auch materiell, bot ihm, dem damals Vielgefragten und kreuz und quer durch Europa Reisenden, sogar seine Dienste als Sekretär an. Aber dann war der Tagesruhm dahin, die Silhouette begann zu bröckeln, und noch ehe Dank den Stoffwechsel zwischen dem Schüler und dem Bewunderten verschlacken konnte, stand dessen Sockel leer.
    Als sie einander Ende der siebziger Jahre kennenlernten, war Wolf etwas über zwanzig; soeben nach Berlin gezogen, hatte er einen Halbtags-Job gefunden in einerLichtpauserei am Bahnhof Zoo. Hinter den Gittern auf der anderen Seite des Parkplatzes hörte man immerzu das Hufgetrappel und Schreien und Kreischen der Tiere, denen der Frühling ins Gedächtnis rief, wo um Gottes willen sie waren, und Wolf füllte gerade den Papierschacht einer Druckmaschine auf, da klingelte das Windspiel über der Tür, und Richard Sander betrat den Raum. Einen Umschlag voller Manuskripte wollte er kopieren lassen, obwohl das sehr teuer war in dem Geschäft, und als Wolf ihm sagte, dass er es gegenüber der Technischen Universität, also nur ein paar Schritte entfernt, zu einem Fünftel des Preises machen könne, winkte er ab. »Ich hab’s eilig. Ist nur Geld …«
    Eine auffällige Erscheinung, jedenfalls in diesem Bezirk der Stadt: Die derben Schuhe und die Hose waren voller Farbflecken, und an dem karierten Flanellhemd hatte jeder Knopf eine andere Größe. Die Jacke aus blauem Drillich schien neu zu sein; Schlosser oder Klempner zogen sie gewöhnlich an, oder eben Intellektuelle und Künstler, die aussehen wollten wie Arbeiter. Die langen blonden Locken waren aus der Stirn gestrichen und knapp über der Schulter abgeschnitten, und obwohl es regnete, trug er eine Ray-Ban-Sonnenbrille. Wolf hatte ihn schon öfter auf den Spazierwegen am Grunewaldsee gesehen, in bemalten Schuhen, oder im Publikum von Lesungen oder Vorträgen, die er gelegentlich besuchte und wo der Mann stets in deutlichem Abstand zu jedem anderen saß. Manchmal trug er einen wurzelartigen Wanderstock bei sich und trank einen Schluck Wein aus der Flasche, die aus seinem Mantel ragte. Manchmal schrieb er etwas auf.
    Nicht dass er wirklich ein Bunter Hund gewesen wäre, sondern dass er offensichtlich einer sein wollte, war das Rührende in einem Westberlin, in dem bereits die Kybernetik das Denken strukturierte, das Koksen schick wurde und die ersten Lokale damit begannen, weiße Decken auf die Tische zu legen. Ihm fehlte aber die oft freundliche und selbstzufriedene Ausstrahlung solcher Krauterer. Die dunkle Brille, das erhobene Kinn und der schlaffe Teint mit den breiten, deutlich konturierten Lippen, deren Winkel immer etwas herabhingen, gaben dem Fünfundvierzigjährigen einen leicht hochmütigen Ausdruck, kalt fast, und auch jetzt muss der junge Wolf sich einen Moment lang wehren gegen seine Ablehnung, dem Reflex aus einer kleinbürgerlichen oder proletarische Herkunft, wo das Eigenwillige und Sonderbare nur so lange akzeptiert wird, wie es den gängigen Vorstellungen von Eigenwilligkeit und Sonderbarem entspricht. Er legt das Manuskript in die Maschine.
    Dabei liest er den Namen des Mannes und stutzt, und da er Gedichte von ihm kennt, die er erschütternd findet, zauberhafte Zeichnungen voller springender, fliegender, stürzender Wesen und beeindruckende Kurzgeschichten und Novellen, weicht seine Voreingenommenheit einer leisen Beschämung darüber, die besondere Klasse unter der Aura des Stromers nicht sofort erkannt zu haben; schon in der Stimme, die

Weitere Kostenlose Bücher