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Feuer der Götter: Roman (German Edition)

Feuer der Götter: Roman (German Edition)

Titel: Feuer der Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Simon
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und war dann einfach gefangen genommen worden.
    »Ich habe einen Bruder in der Stadt verloren«, murmelte er, die Augen schließend. »Geopfert haben sie ihn …«
    Unwillkürlich dachte Naave an Canca, jenen Düsteren, der gesehen hatte, wie sein Bruder von der Opferbrücke gefallen war. Oder war es sein Sohn gewesen? Nein, der Sohn war erst mit seinem Kanu aufgebrochen. Dieser Mann jedenfalls sah keinem von beiden ähnlich. Naave schüttelte den Kopf – er tat ihr leid, doch mit ihrem eigenen Leid hatte sie genug zu tun. Sie reckte sich, um hinausblicken zu können. Die Luft war staubig von Manoqmehl; offenbar war dies ein Speicher, dessen oberen Raum man derzeit nutzte, um Leute wegzusperren. Jenseits der weißgetünchten Umfassungsmauer drehten Männer in Geschirren einen Mühlstein – auch das konnte eine Strafe für Diebstahl sein. Goldener Abendschimmer legte sich über die fernen Hügel. Rings um das Anwesen der Yioscalos lag das Sonnenviertel, das ersehnte Ziel – so nah und doch so weit fort wie eh und je. Wenn sie sich etwas weiter hinaufzog, konnte Naave in den Hof blicken. Die Bronzestange war entfernt worden; alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Die Almaras steckten die Köpfe aus dem Stallgatter, Heu mahlend; und es interessierte sie nicht, dass die wunderschöne Cijac ganz in der Nähe in ihrem Käfig herumstromerte. Gewaltige Muskeln spielten unter dem glänzenden Fell. Naave glaubte sich zu erinnern, die Katze brüllen gehört zu haben. Oder war es ihr eigener Schrei gewesen?
    Wenn sie sich nur vorstellte, jemand berühre sie an den Füßen – dann krampfte sich ihr ganzer Körper zusammen und bebte wie ein Schilfrohr im Wind. Mit zitternden Fingern hob sie den Saum des Kleides und wischte sich über die tränenverklebten Augen.
    Wind kam auf; der Himmel verdunkelte sich. Von einem auf den anderen Moment prasselte warmer Regen nieder. Auf den Dächern schimpften die Frauen und jauchzten die Kinder. Naave zog sich wieder am Fenstersims hoch und sah hinaus. Sie konnte ein Stück weit den großen Platz einsehen, wo zwei lachende junge Mädchen, die nassen Sonnenschirme auf den Schultern und die feinen, aus Teotlihua-Seide gewebten Kleider gerafft, durch die rasch entstehenden Pfützen liefen. Hier war das Leben so angenehm, dass man sich sogar über ein Unwetter freute. Naave beugte sich so weit aus dem Fensterloch, dass die Tropfen auf ihrem Gesicht zerplatzten. Mit nassem Haar ließ sie sich zurück in ihr Gefängnis gleiten und lehnte sich an die Wand. Gerne hätte sie den Kopf zwischen den Knien vergraben, aber es war nicht möglich, die Füße aufzustellen. So schlug sie die Hände vor das Gesicht und weinte still hinein, weinte über die bittere Ungerechtigkeit der Götter, sie zu einer Tochter des Priesters, und über die des Vaters, sie zu einer Bewohnerin der Gosse gemacht zu haben. Sie weinte um ihre betrogene Sehnsucht, bis all der Zorn einer eigenartigen Leere wich, die mit etwas anderem gefüllt werden wollte. Was das war, brauchte sie sich nur einzugestehen, und dann würde die Leere einer anderen Sehnsucht weichen. Aber wäre das besser? Royia war fort.
    »Ich vermisse dich. Mehr als das«, wisperte sie in die Stille hinein.
    Es war gesagt. O Tique, sie hatte es endlich zugegeben. Sie wollte nicht mehr das schöne Leben auf den sonnigen Hügeln. Sie wollte ihn.
    • • •
    »Heute ist der erste der fünf Tage! Der Anfang der Endenden Finsternis! Das Fest hat begonnen!«
    Auf einer aus Holz errichteten Plattform schritt eine Frau hin und her, die Hand in die Seite gestemmt. Eine bunt bemalte Maske mit einem weit aufgerissenen Maul und riesigen Augen bedeckte ihr Gesicht.
    »Ich bin Gonitlaxa«, rief sie mit übertrieben düsterer Stimme. »Ich bin gekommen, Dunkelheit über eure Stadt zu bringen. Wo ist der Gott-Eine, dass er mich aufhält? Er ist nicht da, haha!«
    Die Städter drängten sich um die Plattform, lachten oder schimpften, klatschten oder schüttelten spielerisch die Fäuste. Hinter der Maskierten war ein Tuch gespannt, auf das mit groben Strichen Menschen gemalt waren. Ein vieltürmiges Gebäude, der Tempel offenbar. Größere Gestalten mit ähnlichen Kronen, Flügeln, manche mit sechs Armen, andere voller Waffen. Ein grünes Band stellte den Fluss dar. Rot war das Blut. Es floss von den Spitzen der Türme.
    »Vergeudet euer Opferblut nicht!«, schrie die Frau und tanzte dabei von einem Ende der Plattform zur anderen, dass die Federn wippten, welche die Maske

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