Feuer der Götter: Roman (German Edition)
auf den Bogen. Mit dem Arm wischte Naave darüber, nahm dann das Tuch, das ihr Iine hinhielt, und schneuzte sich.
Es gelang ihr zusehends schneller, die Zeichen auf dem ersten Bogen zu entziffern. »Da steht: Geschichten über das Kalte Land. Darüber hat allen Ernstes jemand geschrieben?« Erstaunt schlug sie die zwanzig Bögen um. Tatsächlich, sie las von Stürmen, von Regen, der einem die Haut aufriss, weil er so kalt war, und von dem harten Menschenschlag, der dort angeblich lebte. Naave klappte das Buch zu. »Also, so etwas mag ich nicht lesen.«
»Aber es ist wirklich spannend!« Iine nahm es wieder entgegen und öffnete es. »Da wird von Menschen erzählt, die sich in Felle und dicke Wolle kleiden und dass sie ständig Fleisch essen müssen, um nicht abzumagern und zu sterben. Hör dir das an: ›Die Kalte Welt entstand, als der Tod in sie kam. Von dort stammt der Schattenhauch. Der Gott-Eine verabscheut diese Welt, sie ist die steingewordene Verachtung. Man weiß von einigen Menschen, die dorthin gingen und wieder zurückkehrten. Ihr Atem war hart geworden, so dass sie jedem, der zu nah bei ihnen stand, spitze Nadeln aus Wasser ins Gesicht schossen.‹« Die Dienerin errötete noch tiefer. »Ich habe es jedenfalls verschlungen.«
»Wo hast du das denn her?«
»Aus der Schriftenkammer. Dort gibt es Hunderte solcher Bücher.«
»Und wo ist die?«
Iine deutete zur Decke. »Über deinem Zimmer.«
»Ich möchte sie sehen.«
»Verzeih, aber ich muss erst fragen, ob du darfst.«
Naave schnaubte ungeduldig. »Dann geh! Sag ihm, dass ich es will! «
Das Mädchen sprang so heftig auf, dass die Schale mit dem Brot umkippte. Hastig, unter mehreren Verbeugungen, rannte sie aus dem Zimmer. Naave eilte zum Fenster, setzte sich halb auf den Sims und lehnte sich rücklings hinaus. Die Schriftenkammer besaß offenbar die gleichen Ausmaße wie ihre. Eine Matte, die vor Regen schützen sollte, war dort oben vor der Fensteröffnung befestigt, und ein Teppich flatterte von der Brüstung. Auch von den anderen Fenstern des verschachtelten Tempelgebäudes hingen solche Teppiche. Natürlich, man pflegte sie während der Festtage herauszuhängen; sie zeigten auf dunklem Grund aus Goldfäden gewirkte Sonnen.
Wenn sie die Truhe unters Fenster schob und sich auf die Brüstung stellte, würde sie den Teppich erreichen können. Sich daran hochzuhangeln, wäre jedoch schwierig. Zumal das in dieser Höhe gefährlich war: Die Plattform, auf der der Tempel errichtet war, befand sich sicherlich mehr als drei Manneslängen unter ihr. Und dann …
»Der Hohe Priester sagt, dass du dir die Schriftenkammer ansehen darfst«, verkündete die Dienerin. »Du darfst dir auch einige Bücher mitnehmen. Aber du sollst mir vorher zeigen, welche. Möchtest du gleich hinauf?«
»Ja.« Naave spürte wieder den Zorn wie heiße Glut in sich hinaufwallen. Von einem Kind sollte sie sich gängeln lassen? Vielleicht war es doch besser, Priesterin zu werden, um sich Respekt zu verschaffen. Allerdings würde sie dann einen Menschen opfern müssen … Diesen grässlichen Gedanken schob sie beiseite und folgte Iine aus dem Zimmer. Tatsächlich stand ein grimmig dreinschauender Wachtposten neben der Tür, mitsamt Lavasteinschwert, Speer und drei Messern am Gürtel. Wen sollte er abhalten? Den Feuerdämon vielleicht? Oder galt seine einschüchternde Gestalt ihr, damit sie brav blieb? Sie bedachte ihn mit ihrem hochmütigsten Blick und schritt hinter dem Mädchen den Korridor entlang, dann eine Rundtreppe hinauf. Auch die Tür der Schriftenkammer war bewacht, jedoch von einem jungen Priester, der dösend auf einem Hocker saß. Iine drückte leise die Tür auf.
»Sieh dir das an, Herrin! Ist es nicht wunderbar? Ich wünschte, mein Leseunterricht wäre schon abgeschlossen. Manche Zeichen und Bilder machen mir noch arg zu schaffen.«
Staunend betrat Naave den kreisrunden Raum. Höher als ihre Kammer, war er voller Regale, in denen lederne Platten aufgereiht standen, zwischen ihnen Schilfrohrbögen unterschiedlichster Zahl. Wer mochte das alles beschriftet haben, womit und wozu? Ihre Finger glitten vorsichtig die geschnürten Rücken entlang, berührten die Körbe, in denen Tonkissen lagerten, in die man Zeichen eingeritzt hatte. Auch gerollte Schilfrohrbögen gab es; sie ragten aus hölzernen Kästen heraus. Die Luft war erfüllt vom Geruch von Leder und Staub.
»Wo ist das Buch der Aqs?«, fragte Naave.
»Hier«, Iines ausgestreckte Hand fuhr eine
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