Feuer der Götter: Roman (German Edition)
verfolgte Royia; er sandte Todeshauch aus. Royia hatte das Axot mit seinen Gedanken gerufen und den Schattenhauch hergelockt. So hatte es Muhuatl gesagt: Toxina Ica verjagte den Tod in die Unterwelt, von wo aus dieser seitdem seinen Schattenhauch aussendet, um Sterbende zu holen.
Und er war hier.
Naave schreckte hoch. Da war kein Schatten. Zumindest keiner, der sich von den Schatten unterschied, die mit der Nacht gekommen waren. Sie rieb sich über die fröstelnden Arme. Der Traum vom Schattenhauch … Sie hatte ihn schon einmal geträumt, im Wald, als Royia das Axot herbeigerufen hatte. Sie hatte den Tod gespürt. Aber Royia hatte nichts gespürt. Warum?
Langsam ließ sie sich wieder auf das Bett sinken. Auch seiner Umarmung entsann sie sich, wie er sie auf dem Ast festgehalten hatte, als sie auf einem Baum genächtigt hatten. Seltsam, ich erinnere mich erst jetzt daran. Aber auch nur schemenhaft. Ich weiß nur, dass … dass es schön war.
Schmerzhaft schön, nun da sie eine solche Umarmung nie wieder spüren würde.
Sie kuschelte sich in die Decken, berührte sich, aber das Gefühl, das ihre Hände hervorriefen, war schal. So stand sie wieder auf und tapste zum Fenster, herbeigelockt von dem Lärmen der nächtlichen Stadt. Der Platz vor dem Tempel war mit Feuern und Fackeln erleuchtet und dicht bevölkert. Auch die Straßen dahinter, die Gassen, überall drängten sich die Menschen, um ihrer geradezu zwanghaften Lust am Feiern zu frönen. Sie tanzten, klatschten, stritten sich, rauften miteinander, umarmten sich, und überall erklang die wilde, wahrlich nicht schön anzuhörende Mischung aus Trommeln, Flöten, Fellpauken und Rasseln. Mit jeder Festnacht wurden die Menschen lauter. Heute war die vierte Nacht. Noch eine würde folgen, und beim nächsten Sonnenaufgang würde ein Mensch sterben und alles für ein Jahr beenden.
Unwillkürlich hielt Naave nach Royia Ausschau. Was natürlich unsinnig war – wäre er wirklich dort unten, so würde sie ihn von hier aus nicht erkennen. Aber es war tröstlich, sich vorzustellen, dass er jeden Augenblick die Treppe heraufgestürmt käme, um …
Nein, das war nicht tröstlich. Das war immer noch schmerzlich.
Naave schob den Oberkörper weit aus dem Fenster, um sich zu drehen und den Teppich, der ihr den heimlichen Einstieg in die Schriftenkammer ermöglichen sollte, noch einmal eingehend zu betrachten.
Es klopfte; die Tür öffnete sich. Rasch machte Naave einen Schritt zurück ins Zimmer. Es war nicht die junge Iine, die da mit mächtigen Schritten eintrat. Es war eine Priesterin mit wogenden Brüsten und klirrendem Schmuck am faltigen Hals und den Armen – dieselbe, die Naave bei ihrem ersten Betreten des Tempels zum Baden geschickt hatte. Auch heute musterte sie Naave unter schweren, dick geschminkten Lidern. Und auch heute schwebte die mit weißem Stoff bespannte Kugel des siebten Mondes über ihrem Haupt.
»Willkommen zurück im Tempel«, sagte sie kühl und streckte einen Ball aus Schilfrohrgeflecht vor. »Dies ist für dein Zimmer. Es ist ja noch recht kahl.«
»Danke«, murmelte Naave und nahm den blauschwarzen Papaccivogel, der sich in dem runden Käfig eingeschüchtert auf seinem Zweig duckte, in Empfang und stellte ihn auf die Truhe.
»Wie du siehst, ist Iine nicht hier.« Die Priesterin setzte sich auf das Bett. »Sie wird auch nicht wiederkommen. Ich werde dich jetzt, nun … betreuen.«
Naave beschlich ein ungutes Gefühl. »Wo ist Iine?«
»Das leichtfertige Ding putzt für die nächste Zeit die Böden. Und zwar in Bereichen des Tempels, wo sie nichts falsch machen kann.« Die wuchtige Frau ließ den Blick über die Decken schweifen und schlug zielsicher eine zurück. »Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass du diese Bände an dich nimmst.«
»Mein Vater will, dass ich sie lese.«
»Unter Anleitung, und nicht, wann du es für richtig hältst!« Eine so schneidende Stimme besaßen nicht einmal die Frauen auf dem Markt. Naave war danach, sich die Ohren zuzuhalten.
»Ich muss noch einen Band …«
»Was du musst, entscheidest nicht du, sagte ich das nicht gerade? Du bist ja noch nicht einmal Novizin!«
»Dass ich die Tochter des Hohen Priesters bin, zählt nicht?«
Die Priesterin der Imiqatiqa, der Göttin der Ordnung und des reinen Herzens einer anständigen Frau, schnaubte so verächtlich, dass Speicheltröpfchen flogen. Im Graben hatte man sich erzählt, dass Imiqatiqa eine verbiesterte Göttin sei, da es so wenige Frauen in der
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