Feuer der Götter: Roman (German Edition)
Regalreihe entlang.
»Das alles?« Naave glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Sie hatte geglaubt, die Familienchronik der Aqs, wie ihr Vater es genannt hatte, sei einfach nur ein dickes Buch. Stattdessen waren es sicherlich mehr als hundert schmale Bände.
»Und die da gehören auch dazu.« Das Mädchen berührte die Reihe darunter. »Die stammen aus der Zeit, als die Pitataqu-Familie den Hohen Priester stellte. Und die Bücher jener Familie, die davor regierte … Ihr Name fällt mir jetzt nicht ein. Aber die lagern hier.« Sie klopfte auf einen großen Kasten, der auf dem untersten Regalbrett stand. »Sie sind so alt, dass man sie in wollene Tücher eingeschlagen hat. Ich hörte einmal, wie eine Priesterin sagte, dass da schon seit Jahrzehnten keiner mehr hineingeschaut hätte.«
»Unglaublich«, murmelte Naave. Sie wollte nach einem der Bücher greifen, doch Iine hob abwehrend eine Hand.
»Verzeih. Aber der Hohe Priester sagt, du sollst das noch nicht lesen.«
Hatte er ihr während des ersten Treffens nicht gesagt, dass sie die Familienchronik lesen sollte? Jedoch hatte er gesagt, irgendwann später … Irgendwann später, wenn ich eine anständige Priesterin geworden bin, die keine Schwierigkeiten mehr macht? »Ach, ich bin sowieso nicht erpicht, mir all das durchzulesen«, winkte sie ab, und das Mädchen kicherte. »Ich sehe mich nach etwas Interessanterem um.«
Sie ließ sich Zeit. Sollte sie ein Lehrbuch nehmen, wie ein Mann das Lavasteinschwert am besten schwang? Oder die Geschichte der Silberfänger, jener Menschen, die viele Tagesreisen westlich der Stadt Silber und Gold aus dem Fluss holten? Beides fände sie interessant … Oder eines von mehreren Büchern, die sich der Betrachtung des schwer zu fassenden Iq-Iq widmeten? Das war etwas für ergraute Leute. Sie wählte ein Buch, das die Tierwelt des Großen Waldes behandelte und schöne Zeichnungen aufwies, dann eines über die Herstellung der Teotlihua-Seide und feiner Almarawolle, und als drittes zwei Platten, zwischen die nur wenige Bögen eingeheftet waren. Sie enthielten Liebesgedichte. Es gab hier wirklich alles! Naave wusste, dass man auf dem Markt einen Schreiber beauftragen konnte, ein Liebesgedicht zu ersinnen – was der Verliebte damit dann tat, darüber hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass man so etwas zwischen zwei Platten steckte und sogar in der Schriftenkammer des Tempels verwahrte.
Auch Iine beäugte neugierig die Bücher, zog hier und da eines heraus und studierte die Schrift auf der Vorderseite. »Die Zeichen auf den Tonkissen sehen anders aus«, sinnierte sie, während sie ein solches Kissen in der Hand wog. »Man hat mir erklärt, dass es eine vereinfachte Schrift ist, die sich schnell einritzen lässt. Die Kissen sehen aus, als hätte man sie in Schilfrohrhäcksel gedrückt. Bildschriften zu entziffern, ist schon nicht leicht, aber wie jemand das lesen kann, ist mir ein Rätsel. Ich glaube, das hier sind Listen der Tempelgüter.«
Naave war froh, dass sich das sonst so schüchterne Mädchen leicht ablenken ließ. So griff sie nach zwei jüngeren Bänden aus der Reihe der Aq-Chronik und schob sie unter ihren kleinen Stapel. »So«, meinte sie leichthin. »Ich bin fertig.«
»Was hast du dir ausgesucht, Herrin?« Iine legte das Tonkissen zurück und berührte zögernd das zuoberst liegende Buch auf Naaves ausgestreckten Armen. »Oh. Liebesgedichte? Wie schön! Und das darunter …«
»Über Tiere des Waldes.«
Die Aq-Deckblätter waren mit nur einem Zeichen versehen, das Naave nicht kannte. Sie hoffte, dass auch das Mädchen nichts damit anzufangen wusste und sich erfolgreich eine Lüge auftischen ließ. Schließlich war nicht zu erwarten, dass jemand, der sich für harmlose Gedichte interessierte, ein paar Bände der Chronik herauszuschmuggeln versuchte. Doch Iine wagte nicht einmal, die restlichen Bände anzuheben.
Sie verließen die Schriftenkammer, und zurück in Naaves Zimmer fragte das Mädchen: »Was möchtest du, Herrin? Noch etwas zu essen?«
»Nein danke.« Naave setzte sich auf das Bett und legte den Stapel neben sich.
»Etwas zu trinken?«
»Nachher.«
»Ich kann auch auf der Knochenflöte spielen und singen …«
»Geh schon!« Wenn sie es jetzt nicht tat, so würde Naave nach einem der Kissen greifen und es werfen. Aber das Mädchen verneigte sich und verließ eilends den Raum.
Naave atmete auf. Für den Fall, dass Iine doch noch einmal wiederkäme,
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