Feuer der Leidenschaft
Sie hatte ein sehr lebendiges Porträt von fast drei Jahrzehnten englischer Malerei und Malern entworfen. Wenn er die Tagebücher zurückgab, würde er empfehlen, diese in fünfzig Jahren zu veröffentlichen, wenn die meisten darin erscheinenden Personen tot sein würden.
Aber es gab darin natürlich auch Partien, deren Ver-
öffentlichung die Familie wohl nicht erlauben würde, weil sie zu persönlich waren. Zu diesen gehörte zweifellos die Beschreibung einer Fehlgeburt, die Heien Sea-ton erlitt, als Rebecca ungefähr zwei Jahre alt gewesen sein mußte.
»Das Baby wäre ein Sohn gewesen. Oh, Gott, warum kann ich nicht weinen? Ich vermisse jetzt meine Mutter sehr. Bei jedem wichtigen Ereignis in meinem Leben -
meiner Verlobung, meiner Heirat, Rebeccas Geburt - fehlt sie mir so sehr, als wäre sie erst gestern gestorben. Und trotzdem kann ich nicht weinen. Vielleicht gibt es da auch eine Zeit für die Trauer, die ich noch nicht erreicht habe.
Oder vielleicht habe ich auch nur den richtigen Zeitpunkt dafür versäumt, und ich bin nun dazu verurteilt, für immer in einem unvollkommenen Zustand der Trauer zu verharren. Mein Kummer gleicht einem wüsten, unendlich großen in-‘ neren Ozean, von dem ich mich nicht durch Tränen befreien kann.«
Diese Worte rührten etwas tief in seinem Inneren Verborgenes an. Er legte mit starrem Gesicht das Tagebuch beiseite. Er hatte selbst ein gerütteltes Maß von diesem Kummer erfahren, von dem Heien hier erzählte, und wie bei Heien war dieser lange in seinem Herzen eingeschlossen gewesen - fast vergessen bis auf einen dumpfen, chronischen Schmerz. Da hatte erst Rebecca kommen und ihm beibringen müssen, wie er sich von seinen privaten Gespenstern befreien konnte.
Ironischerweise hatte sie ihm zwar den Schlüssel zu seiner inneren Befreiung geliefert, ohne jedoch selbst Erlösung von ihrem Kummer zu finden. Wie Heien trau-erte sie um den Verlust ihrer Mutter, und er argwöhnte, daß sie wie Heien niemals geweint hatte. Jedenfalls hatte er in ihrem Gesicht nicht eine Spur von Tränen entdecken können, wenn sich ihr Leid in ihren Augen widerspiegelte.
Vielleicht würde er auch ihr helfen können, wenn er sie wiedersah, einen Trost zu finden für ihren Kummer. Doch jetzt, das spürte er, war der richtige Moment dafür gekommen, wo er sich durch ein Bild von seinem letzten ihn noch verfolgenden Alptraum befreien mußte.
Er stieg die Treppe zu seinem Studio hinauf. In diesem Fall würde er Aquarellfarben benützen, die es ihm gestatteten, rasch und flüssig zu arbeiten. Er betete im stillen darum, daß er, sobald er dieses Bild zu Papier gebracht hatte, endlich in der Lage sein würde, mit den Emotionen seiner Vergangenheit so umgehen zu können, wie er das wollte, statt ihnen zwanghaft und hilflos ausgeliefert zu sein.
Kenneth malte bis zum Morgengrauen, um seinen letzten Alptraum in einem Bild festzuhalten. Obwohl es noch nicht ganz fertiggestellt war, wurde ihm bei der Arbeit daran ein fast unheimliches Gefühl des Friedens zuteil. Es würde sicherlich ein kommerzieller Erfolg werden.
Jedenfalls war es sehr dramatisch. George Hampton würde entzückt sein, wenn er es seinem Iberischen-Halbinsel-Zyklus einverleiben konn- l te.
Doch einige Dinge waren eben zu privat, um sie der i Welt enthüllen zu können. Er vermochte sich nur eine Person vorzustellen, der er dieses Bild zeigen konnte, und das war Rebecca. Ihn fröstelte es bei dem Gedanken, daß sie vielleicht nie mehr einen vertraulichen > Umgang miteinander haben würden.
Wieder war er fast den ganzen Tag mit den Vorberei- l tungen für die Instandsetzung von Seaton House be- l schäftigt. Er schonte sich nicht, weil er hoffte, diese in l den nächsten beiden Tagen abgeschlossen zu haben, damit er am. Ende der Woche ebenfalls die Reise nach Schottland antreten konnte.
Und obwohl er in der vergangenen Nacht nicht ge- | schlafen hatte, setzte er sich nach dem Dinner hin, um den dritten und letzten Band von Heien Seatons Tagebüchern zu lesen.
Schon auf den ersten Seiten verrieten ihm Helens Zeilen, daß sie nun unter einer gewissen, sich von Eintragung zu Eintragung steigernden Schwermut litt.
»Warum scheinen mir dieselben Dinge, die mich im Mai noch so glücklich gemacht hatten, im Januar so ‘ fahl und tot zu sein wie Asche? In der letzten Woche ‘ ist das Leben für mich ein solcher Horror gewesen, ‘j daß ich mich gefragt habe, ob es nicht besser gewesen j wäre, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.
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