Feuer der Rache
und endlich holte sie mit einem pfeifenden Ton Luft.
„Ganz langsam. Ein-und ausatmen, ein-und ausatmen", kommandierte Aletta.
„Was ist denn da draußen los?", rief eine Männerstimme.
„Es hat jemand geschrien", erwiderte eine Frau.
„Es ist nichts", rief Aletta. „Alles in Ordnung!"
Die Lichter erloschen. Vorhänge wurden wieder vorgezogen, Türen klappten zu. Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe Maike in der Lage war, sich von ihr aufhelfen zu lassen. Aletta legte den Arm um ihre Schultern und führte sie ins Haus zurück. Sie musste die Freundin nicht fragen, ob es ihr gelungen war, ihren Angreifer zu erkennen. Aletta hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, wer heute Nacht so dreist hier in der Panzerstraße aufgetaucht war.
Schatten der Vergangenheit
Für ihr Gespräch am alten Gymnasium in Blankenese musste die Kommissarin sich erst einen offiziellen Termin geben lassen und dann bei Schuldirektor Reissenberger vorsprechen. Er saß hinter seinem mächtigen antiken Schreibtisch und nickte bei jedem Satz mit dem kahlen Kopf.
„Ich schicke Ihnen die Kollegin Janitz." Er rief seine Sekretärin und ließ die Kommissarin in ein Besucherzimmer führen. Die Sekretärin brachte Tee, Milch und Kandis und einen Teller mit altbackenen Keksen. Dann ließ sie Sabine allein. Fünf Minuten später kam eine junge Frau herein, die auf den ersten Blick aussah, als habe sie selbst das Abitur gerade erst hinter sich gebracht. Sie lächelte die Kommissarin offen an, warf ihren blonden Pferdeschwanz in den Nacken und versicherte ihr, dass sie bereits seit elf Jahren an dieser Schule unterrichte. Offensichtlich musste sie diese Erklärung ständig abgeben.
„So langsam komme ich in das Alter, in dem ich es genieße, für so viel jünger gehalten zu werden, doch glauben Sie mir, es war viele Jahre lang eher ein Fluch!"
Die Kommissarin nickte. „Können Sie sich noch an die Schülerinnen Iris und Maike Stoever, Carmen Gerstner und Aletta Reichmann erinnern?"
Die Lehrerin nickte ungestüm. Auch ihre Bewegungen und Gesten waren die einer jungen Frau. „Aber ja. Sie waren in der ersten Klasse, die ich nach dem Referendariat hier übernommen habe. Ich habe sie geliebt! Entschuldigen Sie, dass ich das so überschwänglich ausdrücke. Damals wusste ich solche Schüler noch nicht genug zu schätzen. Ich war so naiv zu glauben, das sei normal. Aber im Lauf der Jahre habe ich ganz andere Sachen erlebt!"
„Ja, das glaube ich Ihnen. Was war an den vier Freundinnen so ungewöhnlich?"
Die Lehrerin zog ein Fotoalbum heran und blätterte darin, bis sie die richtige Seite gefunden hatte. „Sehen Sie selbst. Sind sie nicht eine Augenweide?"
Sabine beugte sich über das Klassenfoto und betrachtete eingehend die vier Mädchen, die ganz links vorn in der Reihe standen.
„Wann war das?"
„Am Ende der sechsten Klasse. Carmen war ein Genie! Sie lernte Englisch schneller als jeder andere Schüler, und auch in Mathe hatte sie stets eine Eins. Die Freundinnen nannten sie liebevoll Eule. Maike war immer die Königin, die sich bewundern und bedienen ließ. Ich habe nie ein hübscheres Mädchen gesehen. Ihre Schwester Iris verblasste ein wenig neben ihr, doch Gefühle wie Neid waren ihr anscheinend fremd. Sie hat sich stets um die Außenseiter bemüht und vor den Klassenarbeiten ihre Notizen an die Schlamper verteilt, die das weidlich ausnutzten."
Sie seufzte. „Und jetzt ist sie tot. So jung -welch eine Tragik." Sie schüttelte den Kopf und blickte eine kleine Weile stumm vor sich hin.
„Aletta war mir, glaube ich, die Liebste", brach sie plötzlich die Stille. „Sie war auch eine Einserkandidatin, aber viel lebhafter. Diese Lebensfreude, die sie ausstrahlte! Manchmal gab sie auch den Klassenclown, und obwohl Maike die Schönere war, buhlten die Jungs mindestens genauso um Alettas Aufmerksamkeit."
Sabine betrachtete das Foto. „Was ist geschehen?", fragte sie.
Die Lehrerin wirkte unsicher. „Das habe ich mich auch oft gefragt. Ich habe mit Kollegen darüber gesprochen, aber die winkten nur ab. Sie sagten: normale Pubertätsprobleme. Das würde sich geben."
„Und was glauben Sie, was es war?"
Sie zögerte. „Es gab wohl massive Familienprobleme im Hause Stoever. Als die Mädchen nach den Sommerferien in die achte Klasse kamen, waren sie verändert. Und dann haben die Eltern Iris im November ganz plötzlich von der Schule genommen. Maike hat das wohl nicht verkraftet, denn sie begann unmäßig zu essen und kleidete
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