Feuer der Rache
Ablenkung? Keine Heilung?
Wenn er etwas hätte, das ihren Duft trüge! Er sah sie vor sich, wie sie am Grab ihres Vaters kniete, den Rosenstrauß in der Hand.
Der Vampir lief zum Baurs Park zurück. Er fühlte solch eine drängende Eile in sich, dass er sich zu Boden warf und sich reckte und wand. Aus seiner Haut spross dichter, silbergrauer Pelz, und sein Gesicht verwandelte sich zu einer Schnauze mit langen Reißzähnen. Nur die Augen leuchteten weiterhin rot glühend durch die Nacht. Vier kräftige Läufe Irugen ihn durch die Parkanlagen und die Gärten Blankeneses, bis er durch eine Lücke im Drahtgitter zwischen alten Rhododendren in den Garten seiner Villa schlüpfte. Hier erst verwandelte er sich zurück, Hef zur Auffahrt und schob die Hayabusa auf die Straße. Sicher würde er den Friedhof als Wolf schneller erreichen, doch die hell erleuchteten Straßen Hamburgs waren kein guter Platz für ein Tier, das es in der Stadt außerhalb der Gehege von Hagenbeck nicht geben durfte.
Obwohl er von Norden her näher an den Teil des Friedhofs herankommen könnte, in dem Sabines Vater in seinem Grab ruhte, fuhr Peter von Borgo nur bis zum Haupteingang, stellte die Maschine ab und schlüpfte durch die Gitter in den Parkfriedhof. Er flog geradezu zwischen den Gräbern hindurch, bis er den Prökelmoorteich erreichte. Mit zitternden Fingern zog er eine der dunkelroten Rosen aus der Vase und hob sie an seine Nase. Er roch die Süße der Blüte, die die Menschen so mochten, doch darüber hatte sich ein Geruch gelegt, der sein Herz aus dem Rhythmus brachte: Er ließ seine Nase über den Stiel wandern, bis er die Stelle erreichte, wo ein winziger Blutstropfen an einem der gebogenen Stacheln klebte. Die Rose wie einen Schatz an seine Brust gedrückt, machte sich Peter von Borgo auf den Rückweg. Die quälende Unruhe verebbte. Er lauschte auf die Laute der Nacht und versuchte die fernen Motorengeräusche jenseits der Parkmauern auszublenden. Von den Gräbern wehte Blumenduft herüber, aber auch der Geruch von Moder und Verfall. Er konnte die frische Asche in einer Urne riechen und die Fäulnis der Leichen in ihren Särgen. Noch einmal hob er die Rose an sein Gesicht, schloss die Augen und genoss ihren Geruch, ehe er den Frieden des Totenparks hinter sich ließ.
Gemächlich schlenderte er auf die Hayabusa zu, während er in seiner Erinnerung den Duft von Sabines nacktem Körper genoss. Etwas ließ ihn innehalten. Seine Instinkte verdrängten die verlockenden Träume und schärften die Sinne für seine Umgebung. Drohte Gefahr? Nein. Es war etwas, das ihn neugierig machte, das ihn lockte, es näher zu erkunden. Sein Blick huschte umher, seine Nasenflügel blähten sich und nahmen die Witterung auf. Sie! Was tat sie um diese Uhrzeit an diesem Ort? Meist waren die Handlungen der Menschen überaus berechenbar, doch das überraschte ihn. Der Vampir legte die Rose auf den Sitz der Hayabusa und näherte sich dem Objekt, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Irgendwo schlug eine Uhr halb eins. Aletta schaltete den Motor aus und schob ihr angerostetes Moped auf den Eingang des Friedhofs zu. Sie lehnte die alte Maschine gegen ein grünes Schild, das den Besuchern mitteilte, was auf dem Friedhof erlaubt und was verboten war. Aletta öffnete den Riemen ihres Helms und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gerade noch pünktlich, aber wo waren die anderen? Das war wieder einmal typisch. Mit Maike konnte man in dieser Hinsicht ja eh nicht rechnen, aber Carmen war sonst immer zuverlässig. Vielleicht hatte sich Rick verspätet oder einen Rückzieher gemacht. Aber warum rief Carmen sie dann nicht an? Oder hatte sie das Klingeln und Vibrieren nicht bemerkt, während sie hierhergefahren war? Sie zog das Handy aus der Tasche ihrer Lederjacke: Es war eingeschaltet und der Akku noch voll. Kein Anruf war in der Zeit eingegangen, seit sie das letzte Mal auf das Display gesehen hatte.
„Sei ruhig", sagte sie leise zu sich selbst. „Sie werden schon kommen. Und wenn nicht, ist es auch gut. Dann können wir uns diese sinnlose Aktion sparen." Sie zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lunge. Ihre Hände zitterten, als sie die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug in die Tasche schob. Das Feuerzeug fiel herab und schlitterte ein Stück über den Asphalt.
Als Aletta sich nach dem billigen Plastikteil bückte, spürte sie ihn kommen. Sie konnte das Gefühl nicht beschreiben. Esther hätte es vielleicht als die Aura des Bösen
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