Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
Hoffnung, dass ihre Mutter es nicht bemerkt.
In »ruhiger Umgebung« zu lernen, wie andere es nennen, macht Vanessa so rastlos, dass sie sich überhaupt nicht mehr konzentrieren kann. Sie muss sich immer daran erinnern, dass es noch ein anderes Leben gibt, irgendwo außerhalb der Schulbücher.
Sie sinkt tiefer ins Sofapolster und stellt die Füße auf den Couchtisch. Das aufgeschlagene Buch gegen die Oberschenkel gelehnt.
»Was lernst du denn?«, fragt Mama und schaut wieder ins Wohnzimmer.
»Englische Grammatik. Das ist völlig sinnlos und ich hasse es«, sagt Vanessa monoton.
»Es ist bestimmt wichtig, die Grammatik zu kennen.«
»Wozu denn? Kannst du mir das erklären? Bislang hat es nämlich noch keiner geschafft.«
Vanessa klopft ungeduldig mit dem Stift auf das Buch. Sie hat kein Problem damit, Englisch zu sprechen. Songtexte und Filme haben ihr alles beigebracht, was sie braucht. Es ist nur so, dass sie die ganzen
Regeln
nicht kennt oder weiß, warum
genau
man das eine oder das andere Wort benutzt.
»Da fragst du die Falsche«, sagt Mama und lächelt.
Vanessa will gerade etwas erwidern, als zwischen den Sofakissen ihr Telefon klingelt. Mama setzt sofort ihre strenge Miene auf.
»Nessa«, sagt sie.
»Ich schau nur kurz, wer es ist«, sagt sie und gräbt nach dem Handy.
Wille
.
Sie hat seine Nummer aus dem Telefonbuch gelöscht, aber sie auch aus ihrem Kopf zu löschen, ist ihr nicht gelungen. Vor einem halben Jahr war es ganz normal, dass er sich um diese Zeit bei ihr meldete. Jetzt lässt sein Anruf ihr Herz doppelt so schnell schlagen.
Mama steht noch immer da und starrt sie an. Das Telefon klingelt weiter.
»Gehst du nicht ran?«, fragt Mama.
Vanessa weiß, dass das ein großer Fehler wäre. Aber ist es ein Fehler, den sie verhindern kann?
»Doch, geht nicht anders«, sagt sie und steht auf.
Mama seufzt und Vanessa verschwindet in ihr Zimmer. Sie nimmt den Anruf entgegen und zieht die Tür hinter sich zu.
»Hallo?«
»Hi, Nessa …«, sagt er.
Ihr wird schwindelig, als sie seine Stimme hört.
»Mama hat erzählt, dass sie dich heute getroffen hat«, sagt er.
»Ach ja?«, fragt Vanessa und versucht, gelangweilt zu klingen. Sie bezweifelt, dass es ihr gelungen ist.
»Ich stehe an unserem Treffpunkt«, sagt Wille. »Kannst du runterkommen?«
Das wäre ein zweiter Fehler. Ein noch größerer.
»Warum denn?«
»Ich will nur mit dir reden. Es ist so lange her.«
Vanessa dreht sich zu dem Ganzkörperspiegel und tufft ihre Haare auf. Als sie das tut, weiß sie, dass sie sich entschieden hat.
»Ich bin gleich da«, sagt sie.
Sie legt auf, ehe er antworten kann, schiebt das Handy in die Tasche ihres Kapuzenpullis und geht ins Wohnzimmer. Vanessa schaut aus dem Fenster. Willes Auto steht an der Bushaltestelle.
Sie sollte ihm eine SMS schicken, dass sie doch nicht kommt.
»Lernst du?«, ruft Mama aus der Küche.
»Mhm«, sagt Vanessa.
Da unten im Auto sitzt Wille und wartet auf sie. Es fühlt sich so normal an, so
vertraut
, als hätte es das letzte halbe Jahr nicht gegeben.
Und sie ertappt sich bei der Überlegung, ob sie bereit ist, ihm zu vergeben. Wenn er sie wirklich, wirklich darum bitten würde, dann würde sie es vielleicht sogar tun. Vielleicht.
Herrgott, Linnéa würde sie für total erbärmlich halten.
Aber sollte es nicht egal sein, was andere darüber denken?
»Ich muss mit Frasse raus«, ruft sie ihrer Mutter zu.
»Du warst doch schon mit ihm unterwegs.«
»Er tut aber so, als müsse er total dringend«, sagt Vanessa und zupft vorsichtig an seinem Halsband.
Widerwillig hebt Frasse den Kopf und schaut sie verschlafen an.
»Nessa, wenn das nur eine billige Ausrede ist, um dich vorm Lernen zu drücken …«
Vanessa schleift Frasse in die Diele, zieht sich ihre Jacke über und leint ihn an. Er ist jetzt zu sich gekommen und wedelt erwartungsvoll mit dem Schwanz, hocherfreut über einen Extraspaziergang.
»Bin gleich zurück«, sagt Vanessa.
Die Luft ist kalt und beißend. Vanessa ist kaum aus der Tür getreten, da friert sie schon. Frasse schnüffelt fieberhaft jeden Millimeter ab, als sie zu Willes Auto laufen.
Sie sind fast angekommen. Wille steigt aus, und Frasse zerrt so begeistert an der Leine, dass er Vanessa beinahe den Arm ausreißt.
»Hallo, Frasse«, sagt Wille. »Na, alter Freund.«
Frasse springt an Wille hoch, lässt sich streicheln und hinter den Ohren kraulen. Vanessa steht still daneben und wartet. Wille beachtet sie kaum, und sie fragt sich, ob
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