Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
um ihre Hand wird fester.
»Ich wünsche mir nichts mehr, als dass du es mir erzählst, aber ich verstehe dich. Manche Dinge muss man alleine tragen. Aber hör mir zu …«
Er befeuchtet seine trockenen Lippen mit der Zunge.
»Möchtest du einen Schluck Wasser?«, fragt Anna-Karin, aber er schüttelt ungeduldig den Kopf.
»Mein Vater hatte häufig Wahrträume«, sagt er. »Ich selbst hatte nur zwei. Den ersten in der Nacht, bevor du geboren wurdest.«
Großvater schielt zur Zimmertür. Dann senkt er die Stimme, bis sie nur noch ein Wispern ist.
»Ich habe von einem Mond geträumt, der über Engelsfors aufging. Er färbte sich rot vom Blut eines Jungen mit schwarzem Haar. Ich habe von einem Fuchs und einem Mädchen mit grünen Augen geträumt. Einem Mädchen, das viel ertragen musste. Aber sie war stark. Viel stärker und mutiger, als sie selbst ahnte. Und sie war nicht alleine. Sie hatte Freunde. Weißt du, von wem ich spreche, Anna-Karin?«
Anna-Karins Augen füllen sich mit Tränen. Sie kann nur nicken.
»Und heute Nacht hatte ich … einen Traum, der kein Traum war. Ich war im Grenzland zwischen den Lebenden und den Toten. Ich bin einem Mädchen mit Sommersprossen im Gesicht begegnet. Sie lebte vor Hunderten von Jahren, aber sie wird noch immer im Grenzland festgehalten. Sie wollte so viel erzählen, aber sie konnte nicht. Das Einzige, was sie sagte, war, dass ihr euch mit euch selbst und miteinander versöhnen müsst – ein für alle Mal. Ihr müsst es gemeinsam tun. Der Weg, auf dem ihr wandert, ist dunkel und gefährlich, und ihr müsst es wagen, einander zu vertrauen, müsst eure Geheimnisse teilen, wenn ihr dem entgegentreten wollt, der von Dämonen gesegnet ist.«
»Dämonen?«, sagt Anna-Karin. »Großvater, weißt du etwas über sie?«
Er schielt wieder zur Tür.
»Nein, sie hat das gesagt.«
»Hat sie dir erzählt, wer es ist? Der Gesegnete?«
»Ich bin nicht sicher, ob sie das wusste. Oder ob sie es einfach nicht sagen konnte.«
Anna-Karin erkennt die schweren Schritte ihrer Mutter, die über den Flur näher kommen.
»Danke, dass du mir das erzählst hast, Großvater«, sagt Anna-Karin leise.
Ida weiß, dass sie es nicht tun sollte.
Aber sie hat mit Erik und seiner Familie zu Abend gegessen. Und er hat schon wieder gefragt, ob sie ihn nicht doch ins Zentrum begleiten wolle.
Irgendetwas an seinem Tonfall verriet ihr, dass es mehr war als eine gewöhnliche Frage. Ein Nein wäre ein Nein zu viel gewesen. Es hätte das Ende bedeutet.
Er strahlte und umarmte sie, als sie Ja sagte.
Jetzt sind sie auf dem Weg durch Engelsfors. Hand in Hand. Freund und Freundin.
Es war ein schönes Gefühl, ihn glücklich zu machen. Und befreiend, das Buch, Matildas Warnung und die anderen Auserwählten in den Wind zu schießen. Nur dieses eine Mal selbst zu entscheiden.
»Schau mal«, sagt Erik, als sie am Zentrum ankommen.
Ida folgt seinem Blick und sieht, wie Anna-Karin und ihre Mutter gerade ins Haus gegenüber gehen. Die Mutter ist ein typisches Exemplar dieser Engelsforser, die sich schon vor langer Zeit aufgegeben haben und in aufgeplusterten Jogginghosen durch die Stadt watscheln, mit Socken in ihren Hausschuhen und fusseligen alten Pullovern. Sie haben absolut keine Selbstachtung.
»Wie die wieder aussehen!«, sagt Erik. »Die könnten es doch wenigstens
versuchen
.«
»Auf den Bauernhöfen gab’s wohl eine Menge Inzucht«, sagt Ida.
Erik lacht und drückt ihre Hand. Es tut gut, auf derselben Seite zu sein wie er, auf der Seite der Starken, der Gewinner, derer, die keine Angst vor Gespensterinvasionen im Kopf oder vorm Weltuntergang haben.
Heute will Ida wenigstens so tun, als wäre sie sie selbst. Morgen könnte es dafür zu spät sein. Sie vertraut nicht im Geringsten darauf, dass dieses mysteriöse Ritual eine gute Idee ist.
Im Zentrum für ein Positives Engelsfors ist es fast menschenleer. Die Plakate für das Frühlingsfest am kommenden Montag leuchten einem von allen Wänden entgegen. Erik lässt ihre Hand los, gibt ihr einen Kuss auf die Wange und verschwindet in einen Nebenraum, in dem Robin steht und hektisch auf den Knöpfen eines Flipperautomaten herumdrückt.
Ida entdeckt Julia, die auf einem Sofa sitzt und mit ihrem Handy beschäftigt ist. Als Ida auf sie zugeht, reißt Julia die Augen auf und lacht nervös.
»Hey, das ist ja klasse«, sagt die kleine Verräterin. »Bist du jetzt auch dabei?«
»Auch?«
»Ja, also, meine Mutter wollte unbedingt, dass ich Mitglied werde,
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