Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
vorne. Das Klassenzimmer füllt sich langsam, und sie begeht den Fehler, Viktors Blick zu erwidern, als er durch die Tür kommt. Sie weiß nicht, ob es nur Einbildung ist, aber es scheint, als würde er kurz stutzen. Anna-Karins Handflächen sind im Bruchteil einer Sekunde schweißnass.
Viktors dunkelblaue Augen mustern sie, und Vanessa wird so nervös, dass sie auf die Bank nach unten starrt. Die Haare fallen ihr vors Gesicht. Es fühlt sich sehr nach Anna-Karin an.
»Ich darf euch alle jetzt bitten, auf eure Plätze zu gehen«, sagt eine Lehrerinnenstimme.
Vanessa hebt vorsichtig den Blick. Eine Frau mit Brille zieht einen Stapel Kopien aus ihrer Aktentasche.
»Wir schreiben heute einen unangekündigten Test über die Induktion«, sagt sie und die Klasse stöhnt einvernehmlich auf.
»Hey, Sie können uns doch nicht einfach einen Test schreiben lassen, für den wir nicht lernen konnten«, brüllt Kevin.
»Und ob ich das kann«, sagt die Lehrerin, und Vanessa bildet sich ein, ein kleines, siegessicheres Funkeln in ihren Augen zu sehen. »Aus genau diesem Grund nennt man diese Art Test ja auch ›unangekündigt‹.«
Vanessa wirft einen Blick auf das Blatt, das vor ihr auf dem Tisch landet.
Sie kapiert nichts von dem, was darauf steht, absolut
nichts
, und sie bittet Anna-Karin im Stillen um Vergebung.
Ida setzt sich an den Tisch im Speisesaal und sieht sich heute zum ersten Mal.
Anna-Karin hat es fertiggebracht, ihren schwarzen Rock mit der roten, unförmigen Bluse zu kombinieren, die sie nie anzieht, weil sie darin so fett aussieht. Aber Ida schafft es nicht mal, sich darüber aufzuregen. Dazu ist ihr das Getuschel in der Mensa viel zu bewusst. Das Getuschel über sie.
Sie wirft einen Blick in den kleinen Nebenraum und sieht Robin, Felicia, Julia und Kevin. Aber keinen Erik.
Bitte, bitte, bitte mach, dass er heute zu Hause geblieben ist, denkt sie.
Gestern hat sie sich Minoos Rechner ausgeliehen und sich in ihrem Account eingeloggt. Erik hat nicht nur ihre Beziehung beendet, sondern sie auch aus seiner Freundesliste gelöscht. Etliche sind seinem Beispiel gefolgt. Aber erst nachdem sie fiese Kommentare hinterlassen hatten. Sie haben es sichtlich genossen, als hätten sie schon lange das Bedürfnis gehabt, aber sich jetzt erst getraut.
Und dann rief Anna-Karin an.
Ida hat nur zugehört. Sie weiß nicht, ob sie sich anders verhalten hätte. Allein der Gedanke an Erik erfüllt sie mit größerer Angst, als es die Dunkelheit je könnte.
Sie dreht sich wieder zu den anderen Auserwählten. Trinkt einen Schluck Wasser. Starrt die Hand an, die das Glas abstellt. Ihr wird jedes Mal schwindelig, wenn sie Minoos Hand anstelle ihrer eigenen vor sich sieht.
»Ich bekomme Kopfschmerzen davon auseinanderzuhalten, wer von uns wer ist«, sagt Vanessa.
Nein, ruft Ida sich ins Gedächtnis. Linnéa sagt das. Linnéa in Vanessas Körper.
»Obwohl es
mein
Kopf ist, der dir wehtut«, sagt Anna-Karin und kichert.
Aber das sagt natürlich Vanessa. Vanessa in Anna-Karins Körper.
Minoo starrt Ida aus Linnéas Augen an.
»Es fühlt sich so unwirklich an«, sagt sie. »Als würde man sich selbst im Kino sehen.«
»Aber im fortschrittlichsten 3 -D-Film der Welt und darüber hinaus als Darsteller und Publikum in einer Person«, sagt Anna-Karin, die eigentlich Vanessa ist.
Ida will ihr Besteck nehmen, aber als sie wieder Minoos Hände sieht, lässt sie es liegen. Sie wird das hier nicht durchstehen.
»Ida«, sagt Linnéas Stimme und Ida schaut hoch.
Wieder muss sie sich bewusst machen, dass Minoo gerade spricht.
»Du musst versuchen, uns als die zu sehen, die wir wirklich sind, sonst wirst du wahnsinnig.«
Ida schaut die anderen der Reihe nach an. Und tatsächlich, wenn sie sich anstrengt, funktioniert es. Denn obwohl alle versuchen, ihre Rolle zu spielen, verraten sie sich doch durch ihre kleinen Eigenheiten.
»Wir müssen besprechen, was passiert ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben«, sagt Minoo. »Gibt es jemanden, der etwas bemerkt haben könnte?«
»Deine Katze hat mich sofort angefaucht, als ich gestern zu dir nach Hause gekommen bin«, sagt Vanessa zu Anna-Karin. »Aber ich nehme an, sie wird es für sich behalten. Und deine Mutter habe ich kaum zu Gesicht bekommen. Sie war zu Hause, aber die meiste Zeit ist sie in ihrem Zimmer geblieben.«
»Frasse und Melvin merken auch, dass etwas nicht stimmt«, sagt Linnéa.
»Armer Melvin …«, sagt Vanessa, aber Anna-Karin unterbricht sie.
»Erik!«,
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