Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
vorstellen, dass hier gleich etwas auftaucht, sobald sie der Tür den Rücken zukehrt. Ein verwestes Gesicht, das sich gegen die Glasscheibe presst, sie anstarrt, hungrig grinst.
Hör auf damit, Ida, denkt sie. Das, was du wirklich tun musst, ist ja wohl beängstigend genug. Musst du dir noch mehr Sachen einbilden, vor denen du Angst haben kannst?
Sie heftet den Blick auf ihre Füße und schaut nicht mehr hoch, bis sie den vierten und letzten Absatz erreicht hat.
Linnéa steht an der Tür und späht durch die schmutzige Scheibe.
»Mist«, sagt sie. »Die Tür ist gesichert. Ich hätte nicht gedacht, dass die Schule Geld für eine Alarmanlage hat.«
Sie stehen dicht gedrängt auf dem kleinen Absatz. Das nasse, kalte Geländer bohrt sich in Idas Rücken und sie schaut über die Schulter nach unten auf den Hof. Es kommt ihr vor, als würde die Treppe unter ihnen vibrieren, als würde das Geländer jeden Moment aus seiner Halterung brechen. Keine Sekunde länger will sie hier stehen. Sie schiebt sich nach vorne zur Tür und schaut rein.
»Was machst du da?«, fragt Linnéa.
Ida sieht sofort das kleine weiße Plastikkästchen an der Wand direkt neben der Tür. Ein rotes Lämpchen blinkt sie herausfordernd an.
Wenn die Kräfte der anderen inzwischen stärker und leichter zu lenken sind, dann wird es bei ihr nicht anders sein. Sie zieht die Handschuhe aus und legt die Fingerkuppen auf die Scheibe. Konzentriert sich.
Ihre Finger fangen an zu kribbeln. Gänsehaut breitet sich auf ihrem ganzen Körper aus.
»Shit, Ida, was machst du da?«, sagt Vanessa.
Jetzt prickeln ihre Finger so, dass es fast wehtut.
Ida sieht, wie auf der anderen Seite der Scheibe, auf Höhe ihrer Fingerspitzen, kleine Blitze knistern. Sie konzentriert sich auf das rote, blinkende Lämpchen, stellt sich vor, es wäre ein Monsterauge, das aufgeht und wieder zu, auf und zu. Und dann zucken Blitze zu dem kleinen Plastikkasten. Das Zischen ist bis nach draußen zu hören und eine dünne Rauchfahne steigt von dem geschmolzenen Kunststoff auf.
Das rote Lämpchen blinkt nicht mehr.
Ida schüttelt die Hände aus, um das unangenehme Prickeln loszuwerden. Die anderen schauen sie beeindruckt an.
»Seit wann kannst du das denn?«, fragt Anna-Karin.
»Seit gerade eben«, sagt Ida.
Linnéa zieht ihren dünnen Pulli aus und die Jacke wieder an. Dann wickelt sie sich den Pulli um die rechte Hand, in der sie den Stein hält. Es wäre einfacher gewesen, wenn Vanessa das Schloss hätte knacken können, aber es ist zu kompliziert für ihre Haarnadeltechnik.
»Was machen die da drinnen jetzt?«, fragt sie und Anna-Karin schließt die Augen.
»Kerstin Stålnacke ist mit dem Schulchor auf der Bühne. Sie haben gerade angefangen zu singen.«
»Perfekt«, sagt Linnéa.
Solange der Chor seine positiven Kampflieder schmettert, verringert sich das Risiko, dass jemand hört, wie die Scheibe eingeschlagen wird. Außerdem hat sie nach Gedanken in der Nähe gelauscht, aber keine finden können. Das heißt, jetzt oder nie.
»Macht Platz«, sagt sie und die anderen weichen ein Stück auf die Treppe zurück. »Passt auf die Splitter auf.«
Linnéa holt Schwung, kneift die Augen zu und dreht den Kopf weg.
Der Stoff des Pullovers dämpft den Knall und das Glas zerspringt.
Ein paar Scherben fallen klirrend auf das Metallgitter vor Linnéas Füße und rasseln weiter nach unten auf den Schulhof.
Linnéa hebt die Hand ein zweites Mal und schlägt ein Loch in die innere Scheibe. Das Glas fällt in den Flur.
Gemeinsam halten sie die Luft an.
Sie hören nur das leise Echo des Chores, das sich bis nach oben seinen Weg bahnt, aber die Ekstase in den Stimmen ist nicht mal hier zu überhören.
Linnéa legt den Stein ab. Sie wickelt den Stoff fester um Hand und Unterarm, dann greift sie vorsichtig durch das Loch nach der Klinke auf der Innenseite und öffnet die Tür.
Sie betritt den Flur. Bleibt stehen und lauscht. Hört weiter unten im Gebäude den Bienenschwarm von Gedanken surren.
Sie schaut zu dem Korridor, der zu den Toiletten führt, wo Elias gestorben ist. Wo alles begann.
Vanessa stellt sich dicht neben sie.
Und plötzlich fragt sich Linnéa, ob sie es wagen soll. Sie will Vanessa so gerne diesen Kuss geben, den die Liebespaare in Filmen immer genau dann miteinander teilen, wenn alles in die Luft zu fliegen droht, wenn sie eigentlich viel zu wenig Zeit haben und man als Zuschauer schon Panik bekommt.
Für gewöhnlich hasst sie diese Paare. Aber jetzt versteht
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