Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
Augenblick. Sie könnte anfangen, an dieser Erinnerung zu reißen und eine Perlenkette anderer Bilder mit nach oben ziehen. Aber plötzlich weiß sie, dass es eine andere Methode gibt.
Sie konzentriert sich noch stärker. Als sie das hier zum ersten Mal gemacht hat, war da dieses Gefühl, einen neuen Sinn entdeckt zu haben. Jetzt begreift sie, dass sie in Wirklichkeit
mehrere
Sinne hat, die sie einsetzen kann.
Es ist, als würden die Scheuklappen fallen, als würden ganze Wände einstürzen. Die Erinnerungen sind nicht wie eine Ankerkette, die in eine einzige Richtung führt, nach unten, immer tiefer durch trübes Wasser. Die Erinnerungen sind wie ein Netz. Tausende, nein, Hunderttausende von Fäden, die hin und her führen, Muster bilden, Assoziationen in alle Richtungen.
Und sie sind nicht statisch. Langsam, ganz langsam wechseln sie, verbinden sich miteinander, verschmelzen, werden getrennt, werden verdreht, verändert. Sie wachsen, schrumpfen, werden verdrängt, schieben sich in den Vordergrund. Ihre Bewegungen sind hypnotisierend.
Und sie muss versuchen, spezifische Details aus diesem steten Fluss zu lösen und aus Adrianas Leben zu entfernen.
Der Gedanke sollte sie in Panik versetzen, aber er tut es nicht. Vielmehr ist ihre Neugier geweckt. Es scheint, als könnte alles das, was in Minoo ängstlich, klein und schwach ist,
menschlich
ist, sie nicht erreichen. Es ist eine Befreiung, keine Angst mehr haben zu müssen. Sie hat die Kontrolle.
Um sie herum pulsieren sacht die Erinnerungen. Sie sucht eine der stärksten aus. Gleitet hinein.
Brennt.
Der Schmerz ist so stark, dass sie das Gefühl hat, daran zu sterben. Sie
wünscht
sich, daran zu sterben.
Und der Schmerz lässt nach, nein, er hat nur noch nicht begonnen. Das ist der Augenblick, unmittelbar bevor es geschehen wird. Minoo sieht Alexanders Gesicht durch Adrianas Augen. Sie sieht ihn, wie Adriana ihn wahrnimmt, während sie ihn gleichzeitig sieht wie Minoo. Er ist jünger, aber sein Gesicht ist genauso angespannt, genauso streng. Er zeigt keine Gefühle, als er das Brenneisen mit dem Feuerzeichen hebt. Es beginnt, in seiner Hand zu glühen, und er richtet es auf Adrianas bloße Haut.
Minoo lässt die Erinnerung los, verschwindet in der nächsten, die ihre Aufmerksamkeit verlangt.
Eine hochgewachsene Frau mit einer antiken Silberbrosche am Revers. Sie sieht Adriana ähnlich. Es ist ihre Mutter. »Ich wünschte, ich hätte mehr erreichen können. Ich habe es versucht«, sagt sie traurig. Adriana glaubt ihr nicht. Sie hasst sie. Sie hasst sie alle.
Minoo sieht einen jungen Mann mit schwarzen, kurz geschorenen Haaren. Er sitzt auf einem ganz ähnlichen Stuhl wie dem im Gerichtssaal. Nein, es ist derselbe Stuhl – Minoo weiß es. Und sie weiß auch, dass das Simon ist, denn Adriana liebt ihn. Mit einer Liebe, die sie ganz und gar erfüllt, einer Liebe, die ihr ganzes Leben trägt. Ohne ihn kann sie nicht sein. Sie nimmt vage die Blicke der anderen wahr, aber das sind nur Schatten in ihrem Bewusstsein. Simon ist alles, was sie sieht. Er ringt nach Luft. Sein Element wird gegen ihn verwendet. Er kann nicht atmen. Und in ihr stirbt etwas, als sie ihn sterben sieht.
Minoo zieht sich zurück. Weiter rückwärts in der Zeit.
Zwei Zirkel mit Feuer als Kraftzeichen. Gezogen auf einem Steinboden in einem Raum ohne Möbel. Die Decke ist hoch und fahles Licht fällt durch die schmalen Fenster. »Versuch es«, hört sie die Stimme eines Jungen direkt neben sich. Sie sieht einen jungen Alexander, der das Buch der Muster hält. »Ich kann nicht«, antwortet sie. Er schlägt das Buch zu und seufzt. Schaut auf die Zirkel. Blaues Feuer flammt auf. Dann richtet er den Blick auf sie. »Du bist wertlos«, sagt er und geht. Sie betrachtet das blaue Feuer. Sie wird nicht aufgeben. Sie wird ihn stolz machen.
Minoo folgt den verschlungenen Erinnerungsfäden, folgt ihnen vorwärts in die Zeit.
Ein Krankenhausbett, ein Einzelzimmer. Piepende Maschinen, zischende Pumpen. Adriana tritt an das Bett und schaut in Max’ regloses Gesicht. Jetzt weiß sie, wer er ist, und sie verflucht sich selbst, dass sie die Zeichen nicht erkannt hat, obwohl sie fast ein Jahr lang zusammengearbeitet haben. Sie schaut zum Beatmungsgerät, überlegt, den Schlauch zu ziehen. Aber das würde bedeuten, sein Leiden zu beenden. Das hat er nicht verdient.
Vorwärts.
Adriana kommt in die Kristallgrotte. »Ich wusste, dass Sie früher oder später kommen würden«, sagt Mona und zieht an ihrer
Weitere Kostenlose Bücher