Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
Minoo.
»Ich hörte es«, sagt Nicolaus. »Ich stand vor ihrem Büro und habe gelauscht, wie ihr euch vielleicht erinnert. Aber ich glaube nicht, dass die Mitglieder des Rats noch wissen, dass ihre Obersten einst in diesen Flammen umgekommen sind. Zumindest nicht die Mitglieder in Adrianas Stellung.«
»Aber wie ist es möglich, so etwas zu vergessen?«, fragt Minoo. »Das muss ein großes Trauma für die gesamte Organisation gewesen sein.«
»Vielleicht haben sie es genau deshalb verdrängt«, sagt Linnéa und schaut Nicolaus an. »Menschen mit Macht wollen niemals zugeben, dass sie auch Schwachstellen haben.«
»Ganz genau«, sagt er. »Der Rat hasst es, das Gesicht zu verlieren. Seine Mitglieder sollen allwissend und unverwundbar erscheinen. Das Scheitern mit Der Auserwählten war schon unerklärlich und peinlich genug. Und dann dieser Brand … Nach meiner Tat wagte ich es natürlich nicht mehr, mich dem Rat zu nähern, aber auf meinen Wanderungen erreichten mich Gerüchte. Neue Mitglieder übernahmen sofort die Führung und der Engelsfors-Skandal wurde totgeschwiegen. Die, die sich daran erinnerten, blieben stumm, alterten und starben. Die Prophezeiung von Engelsfors verkümmerte zu einer Prophezeiung unter vielen. Nur so erklärt sich, dass der Rat so schlecht darauf vorbereitet war, als ihr hier aufgetaucht seid. Man hatte vergessen.«
Linnéa erinnert sich an alles, was sie im letzten Jahr in den Gedanken der Rektorin gehört hat. Wie ihr von Mal zu Mal klarer wurde, dass Adriana viel weniger wusste, als sie vorgab.
»Aber was ist mit deinen Erinnerungen?«, fragt Minoo. »Was ist vorhin am Grab eigentlich passiert?«
»Menschen sind nicht dafür geschaffen, so lange zu leben wie ich«, sagt Nicolaus. »Ich wusste, dass ich mit der Zeit immer mehr vergessen, immer verwirrter werden würde. Das Buch zeigte mir, wie ich Magie in dem Grab aufbewahren konnte. Magie, die mein Gedächtnis wiederherstellen würde. Manche Erinnerungen legte ich auch in meinem Familiaris ab. Ich hoffte, sie würden mir den richtigen Weg weisen, wenn die Zeit gekommen wäre.«
»Du hast also eine Art Sicherheitskopie von dir selbst gezogen und sie hier in Engelsfors deponiert?«, fragt Vanessa. »Und dann hat die Magie sozusagen einen Neustart in deinem Hirn veranlasst?«
Ein Hauch der alten Verwirrung taucht in Nicolaus’ Blick auf.
»Ich bin nicht ganz sicher, was du meinst, aber eine Kopie, die in Sicherheit aufbewahrt wurde … Ja, das passt.«
»Und was hast du die letzten Jahrhunderte gemacht?«, fragt Linnéa.
»Ich irrte durch die Welt. Sah Epochen von Kriegen und Frieden vorüberziehen. Ich hatte das Silberkreuz bei mir, es schützte mich. Manchmal waren meine Sinne klar und ich erinnerte mich an meine Ziele, meine Verbrechen. In diesen Phasen war ich in der Lage, mir die Gebräuche und die Sprache der jeweiligen Zeit anzueignen, neue Dinge zu lernen. Aber immer wieder versank ich im Nebel. Ein paarmal kehrte ich nach Engelsfors zurück, um mir selbst neue Hinweise zu hinterlassen. Wie dieses verflixte Schließfach mit dem Brief.«
»Aber …«, sagt Minoo, und Linnéa bildet sich ein, fast zu sehen, wie die Zahnräder in ihrem Gehirn Funken schlagen. »Den Brief an dich selbst hast du in einem Augenblick völliger Klarheit geschrieben, aber du hattest auch Angst, dein Gedächtnis wieder zu verlieren. Und das ist ja dann passiert. Warum hast du das Grab damals nicht geöffnet, bevor dich das Vergessen wieder einholen konnte? Dann hättest du dir die Erinnerung doch bewahrt.«
»Exakt«, sagt Linnéa. »Es wäre ganz praktisch gewesen, wenn du dich schon im letzten Herbst an alles erinnert hättest, bevor wir erweckt wurden.«
Nicolaus schaut weg.
»Ich weiß nicht, warum ich das Grab unangetastet ließ«, sagt er.
»Dann erinnerst du dich an alles, nur daran nicht?«, beharrt Linnéa.
Nicolaus schaut sie durchdringend an.
»Nein, ich erinnere mich nicht. Aber das Wichtigste ist, dass wir jetzt wissen, wer ich bin. Ich habe meine Tochter und meine Frau im Stich gelassen. Ich habe kaltblütig gemordet und die Rache der Vergebung vorgezogen. Und ich bin nicht sicher, ob ich diese Verbrechen je sühnen kann.«
Er sieht unglücklich aus, und Linnéa kann plötzlich verstehen, dass er das Grab nicht öffnen wollte. Sein Unterbewusstsein wollte ihn wohl schonen.
»Es tut mir leid«, sagt sie. »Es tut mir leid, dass das alles passiert ist, und es tut mir leid, dass du gezwungen warst, es dir ins Gedächtnis
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