Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
erzählt hat?
Minoo geht in den Flur und begegnet ihrer Mutter. Sie trägt ihren zerschlissenen roten Morgenmantel, den sie schon hat, solange Minoo denken kann.
»Bahar kommt uns bald besuchen«, sagt Mama froh. »Shirin und Darya kommen vielleicht auch mit.«
Minoo wünschte, sie könnte sich genauso sehr darüber freuen. Auch wenn sie ihre Tante und ihre Cousinen wirklich mag, sind die drei enorm anstrengend. Und sie hat zurzeit wirklich Drama genug in ihrem eigenen Leben.
»Ist Darya nicht in London?«
»Nein, sie ist wieder zu Hause und macht ein Praktikum in einer Werbeagentur. Bahar ist ganz sicher, dass sie im Frühjahr ein Jurastudium anfängt. Oder Medizin. Oder sie wird UNO -Generalsekretärin.«
Mama verdreht die Augen und Minoo lacht. Bahar und ihr Mann Reza hatten schon immer große Pläne für ihre Töchter.
»Aber jetzt beeil dich, damit du nicht zu spät zur Schule kommst«, sagt Mama und verschwindet im Bad.
Minoo geht nach unten, nimmt ihren Rucksack und öffnet die Haustür. Das Licht blendet sie. Erst als sie ihre Sonnenbrille aufsetzt, sieht sie, dass Anna-Karin draußen auf sie wartet.
»Hi«, sagt sie, als Minoo den Bürgersteig erreicht.
Langsam gehen sie Richtung Schule. Anna-Karin hat ein weit geschnittenes, schwarzes T-Shirt an und trotz der Hitze ihre Trainingsjacke um den Bauch gebunden. Als wolle sie für einen plötzlichen Kälteeinbruch gewappnet sein. Sie trägt sogar Turnschuhe. Ihre Füße müssen kochen. Selbst Minoo hat kapituliert und präsentiert ihre abnorm großen Füße in Sandalen.
»Hast du geschlafen?«, fragt Anna-Karin.
»Nicht viel.«
Minoo kann Anna-Karins Gesicht hinter dem Schleier aus Haaren kaum sehen, aber ihrer Körpersprache ist deutlich anzumerken, dass sie etwas bedrückt.
»Ich dachte … Das mit dem Rat. Letztes Jahr hat die Rektorin doch gesagt, dass er eine Untersuchung gegen mich eingeleitet hat, wegen dieser Sachen, die ich getan habe …«
Sie verstummt. Minoo wird bewusst, dass Nicolaus’ Bericht für Anna-Karin noch viel beängstigender gewesen sein muss als für sie selbst.
Minoo will gerade sagen, dass der Rat heutzutage wohl kaum Leute auf den Scheiterhaufen schickt, aber dann fällt ihr ein, was er mit Adriana gemacht hat.
»Das war doch im 17 . Jahrhundert«, sagt sie trotzdem und versucht, tröstend zu klingen. »Außerdem haben wir jetzt fast ein Jahr lang nichts mehr von dieser Untersuchung gehört.«
»Nein, du hast recht«, sagt Anna-Karin, ohne übermäßig beruhigt zu klingen.
»Und du bist nicht alleine«, sagt Minoo. »Wir werden nicht zulassen, dass sie dir etwas tun.«
15. Kapitel
A
ls Minoo und Anna-Karin die Schule erreichen, gehen sie auf direktem Weg zum Hausmeisterzimmer und klopfen an.
Niemand öffnet. Die Tür ist verschlossen. Eigentlich ist es nicht überraschend, dass Nicolaus heute zu Hause geblieben ist, aber Minoo ist trotzdem beunruhigt. Hätten sie ihn wirklich in seiner Wohnung alleine lassen dürfen?
Anna-Karin macht sich offenbar ähnliche Gedanken, denn sie zieht ihr Handy raus und wählt seine Nummer.
»Er geht nicht ran«, sagt sie und lässt das Telefon sinken.
»Es ist bestimmt alles in Ordnung. Er muss die ganze Sache sicher nur erst mal verdauen.«
Anna-Karin nickt. Ein paar Sekunden stehen sie schweigend nebeneinander.
»Hast du den Zweitschlüssel noch?«, fragt Anna-Karin.
»Ja. Wenn wir ihn bis heute Abend nicht erreicht haben, gehen wir rein.«
»Nur um zu sehen, ob er okay ist.«
»Genau«, sagt Minoo.
In der ersten Stunde haben sie Chemie. Die Klasse wartet vor dem verschlossenen Saal, als Anna-Karin und Minoo die Treppe hochkommen. Anna-Karin murmelt etwas von Toilette und verschwindet.
Minoo stellt ihre Tasche ab und lehnt sich an die Wand. Sie schielt zu Viktor, der etwas abseits steht und liest. Die verliebten Blicke, die Hanna H. und Hanna A. ihm zuwerfen, registriert er nicht. Die Hannas sind übrigens nicht die Einzigen. Jedes zweite Mädchen, das den Flur entlangläuft, schmachtet ihn sehnsüchtig an.
Ein neuer Schüler am Engelsfors Gymnasium ist für sich gesehen schon eine Sensation. Aber ein neuer Schüler wie Viktor widerspricht allen Naturgesetzen. Er gehört nicht hierher. So wenig wie eine exotische Orchidee in den Fichtenwald von Engelsfors. Minoo schaut zu Erik, Robin und Kevin, die ein Stück entfernt stehen und rumgrölen, und fragt sich, wie lange die Orchidee hier überleben wird.
Ihr Blick wandert zu Viktor zurück. Zu ihrer Überraschung
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